Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
gewusst, Eriol, als du hierherkamst mit deinem Begehren?«
»Nein, ich wusste es nicht«, sagte Eriol traurig, »obgleich ich die Leute oft danach gefragt habe.«
»Dann höre!«, sagte Meril, »ich will eine Geschichte beginnen und dir etwas darüber erzählen, bevor der lange Nachmittag dämmert – doch dann musst du wieder von hier fortgehen und dich in Geduld üben.« Und Eriol neigte das Haupt.
»Sodann«, sagte Meril, »will ich dir nun von einer Zeit des Friedens erzählen, welche die Welt einst kannte und die man Melkos Ketten nennt. 3 Von der Erde will ich dir erzählen, wie die Eldar sie fanden, und wie sie darin erwachten.
Siehe, Valinor ist erbaut, und die Götter leben in Frieden, denn Melko ist weit fort in der Welt, gräbt tief und befestigt sich mit Eisen und Kälte, aber Makar und Meásse reiten auf den Winden und erfreuen sich am Beben der Erde und am übermächtigen Toben der alten Meere. Hell und schön ist Valinor, doch über der Welt lastet eine tiefe Dämmerung, weil die Götter so viel von dem Licht gesammelt hatten, das zuvor die Lüfte durchflutete. Selten fällt nun der schimmernde Regenwie früher, und Düsternis herrscht, von blassen Strahlen erhellt oder rot durchschossen, wo Melko aus einem feuertosenden Berg gen Himmel speit.
Da machte sich Palúrien Yavanna von ihren fruchtbeladenen Gärten auf, um die weiten Lande ihrer Herrschaft zu beschauen, durchwanderte die Erdteile und verstreute fruchtbaren Samen über Berg und Tal. Allein in jenem unendlichen Zwielicht sang sie Lieder höchster Entrückung, und diese waren von solch tiefem Zauber, dass sie über die felsigen Stätten fluteten und ihr Widerhall für Jahre in Bergen und öden Ebenen blieb, und alle guten Zauber späterer Tage sind die flüsternde Erinnerung ihres widerhallenden Liedes.
Da begannen dort Pflanzen zu sprießen, Schwämme und seltsame Gewächse quollen an feuchten Plätzen auf, und Flechten und Moose krochen unbemerkt über die Felsen und nährten sich von ihnen, so dass der Stein zerbröckelte und Staub erzeugte, und die kriechenden Pflanzen starben im Staub, und fruchtbare Krume entstand, in der heimlich Farne wuchsen, und warzige Gewächse und seltsame Wesen hoben die Köpfe aus Ritzen und krochen über die Steine. Yavanna aber weinte, denn dies war nicht das Gedeihen, das sie im Sinn gehabt hatte – da kam Orome durch die Dunkelheit ihr zu Hilfe, doch Tuivána mochte den strahlenden Glanz Kulullins nicht verlassen und Nessa nicht die grünen Rasen ihres Tanzes.
Da vereinigten Orome und Palúrien all ihre Macht, und Orome entlockte seinem Horn gewaltige Töne, als wolle er das graue Gestein zu Leben und Wachstum erwecken. Fürwahr, bei diesem Schallen begann auf den Bergen stöhnend der große Forst zu wachsen, alle dunkelblättrigen Bäume erwachten zum Leben, die Welt wurde überwuchert von Kiefern und angefüllt mit dem Geruch harziger Bäume, Tannen und Zedern bekleideten die Berghänge mit blauen und olivenfarbenen Gewändern, und Eiben begannen ihr jahrhundertelanges Wachsen. Nun war Orome weniger düster und Palúrien getröstet, als sie die ersten Sterne Vardas durch das Schattengezweig der ersten Bäume in den Himmeln aufglänzen sah, das Rauschen der dämmrigen Wälder hörte und das Knarren der Äste, wenn Manwe die Lüfte aufrührte.
Zu dieser Zeit kamen viele seltsame Wesen in die Welt, denn dort gab es angenehme dunkle und stille Orte, um darin zu hausen. Manche kamen von Mandos, uralte Geister, die mit ihm von Ilúvatar gekommen waren, älter als die Welt und düster und verschwiegen; andere kamen aus den Festungen des Nordens, wo Melko damals in den tiefen Gruben Utumnas wohnte. Des Bösen voll waren sie und verderbt, Verlockung und Rastlosigkeit und Schrecken brachten sie mit und verwandelten das Dunkel in einen unheilvollen ängstigenden Raum, was es vorher nicht gewesen war. Doch einige kamen tanzend einher, sanftfüßig und abendliche Düfte verströmend, und sie kamen aus den Gärten Lóriens.
Noch ist die Welt voll von ihnen in den Tagen des Lichts, sie hausen allein im schattigen Herzen uralter Wälder, schicken geheime Losungen über besternte Öden und halten sich in Berghöhlen auf, die wenige gefunden haben – doch zum Glück für die Eldar und Menschen gibt es in den Kiefernwäldern nicht allzu viele dieser alten Wesen, die nicht von elbischer und nicht von menschlicher Art sind.
Als dieses große Werk vollbracht war, wollte Palúrien sich ausruhen von ihren langen Mühen
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