Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
Geschichte! Sie wünschte, er hätte diesem Mädchen Elin trauen können. Doch dann wäre er nicht fortgegangen, und sie hätte ihn nie kennengelernt. Wer hätte ihr dann zu Hilfe kommen sollen? Vielleicht wäre sie schon nicht mehr am Leben, wenn er nicht gewesen wäre. Wahrscheinlich sogar. Darüber mochte sie gar nicht weiter nachdenken. Doch wie eins zum anderen führte, wie sich die Dinge verwoben, war wirklich eigentümlich.
Bedächtig gingen sie dahin, weil Ryss mit seinem schlimmen Knie nicht schnell ausschreiten konnte. Sein Fieber war zurückgegangen, auch die Wunde am Arm bessere sich, sagte er, sie solle sich keine Gedanken machen, er stünde in einer langen Tradition bedeutender Heiler seiner Heimat. Und so folgten sie dem Strom der Leute Richtung Heidelberg, wo immerwährender Markt und Sonntagsbelustigungen, wie etwa die Mysterienspiele vor dem Rathaus, lockten. Die Straße war braun-matschig von all den Fußgängern, Karrenrädern und Tierhufen. Der Schnee hielt kaum jemanden auf, wenn es darum ging, sich Vergnügungen hinzugeben. Gottesdienst und Sonntagspredigten konnte sich der Kurfürst sonst wohin stecken. Ebenso die christlichen Katechisationen, die überall abgehalten wurden, damit man sich die calvinistische Lehre fest ins Gedächtnis brachte. Madame Belier schickte Appel zu den Unterweisungen, weil deren gottesfürchtige und fromme Haltung zu wünschen übrig lasse, wie sie meinte. Da ihre Brotherrin des Glaubens wegen aus ihrer Heimat hatte fliehen müssen, konnte sie die Kurpfalz gar nicht genug loben, wo die reformierte reine evangelische Religion gepredigt wurde. In einem solchen Land unter solch einem weitsichtigen Fürsten zu leben, bedeute ein Glück, das man schätzen müsse. Und so kümmerte sie sich nicht nur um ihr eigenes, sondern auch um Appels Seelenheil, indem sie diese am Sonntagmorgen zum Katechismusunterricht schickte. Appel. Was dachte ihre Freundin, wo sie war? Nachdenklich schaute sie auf das große Buch hinab. Von Wirt Kaltschmidt hatten sie eine alte Pferdedecke und Kordel erworben, das Buch darin eingewickelt und umschnürt, damit sie es besser tragen konnte. Hauptsächlich aber, damit nicht jeder gleich sah, was sie da mitschleppten. Nun, da sie sich Heidelberg näherten, beschlich Hedwig eine dunkle Vorahnung. Was mochte sie erwarten? Und als sie ihren Blick schweifen ließ und weit draußen in der Ebene im Westen den Schemen des großen dreipfähligen Galgens ausmachte, schwarz aus der weißen Landschaft emporragend, mahnend, Unheil kündend, da klumpte sich die Furcht in ihrem Magen zu einem hässlichen Brocken zusammen, der aus Pech zu bestehen schien.
Sie traten für große, zweispännige Rollwagen zur Seite oder für fässerbeladene Pferdekarren, sie grüßten hier und da zurück, und Hedwig schwatzte ab und an mit Juli, die erwacht war. Als Hedwig in der Ferne den Trutzkaiser erblickte, den mächtigen Wehrturm an der Südwestseite der Stadt, spürte sie neben dem Bangen auch Erleichterung. Sie würden das hier zu einem guten Ende bringen! Tapfer stapfte sie voran, obwohl mit jedem Schritt zunehmend ungewiss war, was sie in Heidelberg erwarten würde.
Bald schon hatten sie den Ausläufer des Gaisbergs erreicht, und Krachen und Knallen verkündete ihnen, dass sie sich dem Seegarten näherten, dem Exerzierplatz vor der Westmauer der Stadt. Hier fanden die sonntäglichen Trillereien statt. Diese „exercitia militaria Friderici“ hatte Kurfürst Friedrich bald nach seinem Regierungsantritt vor drei Jahren überall in der Pfalz eingerichtet, um die Untertanen
in Kriegssachen üben und gewaltig abrichten
zu lassen. In der ganzen Pfalz sollten die Rotten der Landausschussfähnlein auf den Schießplätzen nach der Scheibe schießen und sich im Scharmutzieren und Exerzieren üben. Ausgerechnet an den Sonntagen dem lieben Vaterland mit Musketen, Büchsen und Piken zu dienen, gefiel jedoch kaum jemandem, auch wenn alle einheitlich einen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe sowie rote Übungsröcke erhielten. Und obwohl der Kurfürst diese Maßnahmen im vorigen Jahr durch eine Exerzierordnung zu kräftigen gesucht hatte, waren Bauern und Bürger nicht sonderlich eifrig bei der Sache, auch wenn sich etliche zu den Übungen einfanden. Philipp hatte ihr erklärt, der Fürst wolle dies, weil er auf einen Zusammenschluss aller protestantischen Mächte gegen den päpstlichen Sauerteig und dessen drohende Übergriffe hinarbeite. Und je näher sie nun dem Seegarten kamen,
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