Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
zeigte ein buntes Kirchenfenster und Steinsäulen in einem Klostergang. Das andere stellte ein Gasthaus von außen dar, mit Wirtshausschild und Butzenfenstern. Selbst plaudernde Bürger in Pumphosen, die auf der gepflasterten Gasse davor standen, waren aufgemalt. Es ging um die Erneuerung der Kirche, um den Sieg der reinen christlichen Lehre über den päpstlichen Sauerteig – wie stets.
Nach dem Gottesdienst waren sie von der Menschenmenge geradezu mitgesogen worden, Zahns ebenso. Man strömte hinüber zum Rathaus, um dem Mysterienspiel zuzusehen. Obwohl der junge Kurfürst der sittenstrengen und tugendsamen höfischen Einfachheit seiner Vorgänger ein Ende setzte und Spiele, Schauessen und sonstige Belustigungen veranstaltete, obwohl der Adel wieder in Hof und Stadt einzog und alles mit neuem Glanz bestäubte, sah man es doch noch immer als notwendig an, die Menschen mit religiös-erbaulichen Lehrstücken daran zu erinnern, welcher Segen doch im reinen reformierten Bekenntnis lag. Damit die Leute sich gerne belehren ließen, roch es rundum nach Spießbraten und Speckbroten, stieg grauer Rauch aus wärmenden Gluttiegeln empor und dampfte aus Kesseln heißer Würzwein. So ließe es sich bis zum Abend aushalten, wo das Spiel im Fackelschein seinen Abschluss finden würde. Man war also bestens gerüstet, sorgte fürs Seelenheil wie auch fürs leibliche Wohl bis hin zum Drang nach Geselligkeit.
Seiner eigenen Seele indes hatte weder der Gottesdienst Labsal bieten können, noch kümmerten Matthias die erbaulichen Worte, die der schwarzberockte Prediger dort auf den Stufen des Rathauses so inbrünstig zum Himmel flehte. Sie alle – Gundel, Michel, Zahn und dessen Eheweib – schauten zwar hin, doch er wusste auch bei ihnen um den leeren Blick, um die Sorgen, die in ihrem Innern hausten und die sich mit keinem Mysterienspiel der Welt vertreiben ließen. Nichts war mehr wie zuvor. Bei keinem von ihnen.
Alles erschien ihm wie von innen hohl, ohne Gehalt die Gebärden des Predigers, ohne Sinn die Worte des Pfarrers im Gottesdienst vorhin, selbst seine eigenen Gebete, die er in der Kirche zum Herrn geschickt hatte, waren ihm leer erschienen. Gott, erhörst du wirklich, was ich um mein verlorenes Kind erbitte? Was sollte er tun? Endlos lang lag dieser Sonntag vor ihm, und Matthias war bang, dass sich seine Sorgen auch morgen nicht wirklich lindern ließen, wenn man Philipp vor dem Hofgericht vernahm.
Matthias wandte den Kopf, da Studenten lauthals singend über den Marktplatz taumelten. Er sah Herrn Belier noch immer am Ostende von Heiliggeist stehen und sich mit einem anderen Mann unterhalten, der in ebenso edle Tuche gewandet war wie der flandrische Kaufherr selbst. Dessen federgeschmückte Schmuckspange am Barett glitzerte in der blassen Wintersonne. Farbenfroh leuchteten die Mäntel ihrer Weiber, ihre Perlen und Litzen und die mehrfach geschlitzten, gepufften Ärmel.
Ein Summen hing über dem Platz, Lachen wehte heran, Reiter – den Schwertern und den Wappen auf den Schabracken nach Vasallen – ritten Zunge schnalzend durch das Gewühl, mit selbstherrlichem Blick von oben herab, eine Hand betont entspannt auf dem Oberschenkel. Matthias wandte den Blick ab, ließ ihn schweifen. Auch jetzt ging es ihm wie die Tage zuvor schon, wenn er das Gewimmel in der Residenzstadt betrachtete. Er meinte, jeden Augenblick das Gesicht seiner Tochter aus der Menge auftauchen zu sehen, es dünkte ihn jede junge Weibsgestalt die ihre zu sein. Gleich wohin sein Blick fiel: Waren jene zu Kringeln geflochtenen Haare, die unter der Wollhaube dort am Nordende des Platzes hervorlugten, nicht die ihren?
Er wandte sich Zahn zu, der näher an ihn herangetreten war und ihn ansprach. „Wir machen uns auf ins Jakobsstift, Großhans.“
Matthias nickte.
„Was meint Ihr, wollt Ihr am Abend nicht wieder in den ‚Hirsch‘ kommen und mit uns essen?“
Susanne Zahn, die neben Gundel gestanden hatte, tat einen Schritt auf ihn zu, sah ihm ins Gesicht und sagte leise: „Wir sollten beieinander sein. Wir sind eine Familie.“ Sie betonte das letzte Wort, legte Gundel die Hand auf den Arm.
Plötzlich wallte etwas von solcher Schwärze und Not in Matthias empor, dass er glaubte, darin untergehen zu müssen. Was blieb von dieser
Familie
, sollte sich herausstellen, dass Philipp seiner Tochter etwas angetan hatte?
Susanne Zahn schien zu spüren, was in ihm vorging, sie sandte einen Hilfe suchenden Blick zu ihrem Eheherrn, schluckte und fügte,
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