Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
nicht um sich spähen, und sie tat es dennoch. Grüngraue Baumstämme. Windstöße, die ins Geäst fuhren, dass der Schnee in kleinen Wirbeln herunterrieselte. Äste, die sich ihr entgegenbogen wie Schranken, garstige Arme, die sie am Weitergehen hindern sollten. Auch der Fremde schwenkte einmal nach links, dann wieder nach rechts, weil Unterholz und Gestrüpp im Weg waren. Sie folgte ihm fraglos. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Füße schon nicht mehr spürte, weil sie kalt gefroren waren. Sie nahm hin, dass die Kälte zunehmend vom nassen Mantelsaum nach oben gen Körpermitte drang. Sie schritt weiter, auch wenn sie an einer Ranke oder einem Ästchen hängen blieb. Sie scherte sich nicht um das schroffe Geräusch, wenn das Tuch einriss. Sie wollte nur weiter, weiter – und irgendwann endlich in Sicherheit ankommen. Irgendwo. Julis Raunzen riss sie aus ihrer bangen Stumpfheit. Ihr Kind regte sich, gab schmatzende, girrende Laute von sich. Sofort fühlte sie sich darob elend, obwohl sie es hatte kommen sehen. Auch der Fremde hatte es gehört und drehte sich zu ihr um. Sie schloss zu ihm auf und sagte: „Es war nur eine Frage der Zeit.“ Juli gluckste und bewegte die Beinchen unter dem Wolltuch, sie schabten an ihrem Bauch.
Er schien nicht ungehalten, nickte, überlegte. Schließlich sagte er: „Sie hat Hunger?“
„Ich glaube nicht. Sie ist einfach nur wach.“
„Sie nicht bleibt still, was?“
Hedwig ließ die Stiefel fallen und zog das Wolltuch ein wenig zurück. Sie neigte den Kopf zu Juli hinunter und flüsterte mit ihr. Dabei schob sie die Hand unter ihren Hintern und hob sie sanft auf und ab. Juli gluckste und lächelte. Sie wollte sie mit ihren kalten Fingern nicht erschrecken, drückte ihr deshalb Küsschen auf die Wange. Zunächst gefiel es Juli, dann drehte sie den Kopf weg und verzog das Gesicht. Der Fremde trat ihr vor die Augen. Neugierig beäugte sie ihn. „Grüße dich, Kleine“, sagte er sanft. Juli starrte ihn an – und schenkte ihm ein Lächeln. Er streckte den Zeigefinger aus und berührte vorsichtig ihre Nase. Dabei flüsterte er etwas, das Hedwig nicht verstand. Ein kehliger Singsang, dem Juli aufmerksam lauschte. Wahrscheinlich seine Muttersprache. Als er aufhörte, lächelte sie ihn an, als habe sie jedes Wort verstanden. Auch der Fremde lächelte. Hedwig, die ihn noch nie so gesehen und erst recht nicht erwartet hatte, dass er sich derart verhielt, wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Ga“, juchzte Juli. Es klang laut in der flüsternden Stille des Waldes. Sofort schlug Hedwigs Herz schneller.
„Ga!“, wiederholte der Fremde leise und beugte dabei den Kopf zu Juli hinab.
Juli gefiel’s. Sie zappelte und folgte mit den Augen seinem Finger, der vor ihrer Nase herumtanzte. Er krümmte ihn und wackelte damit, und Juli lachte ein ums andere Mal laut.
Hedwig war bass erstaunt.
Ohne den Blick von ihrer Tochter zu nehmen, sagte er zu ihr: „Ich habe Pillen, die förderlich sind dem Schlaf. Ich zerstoße eine und Ihr gebt ihr das Pulver. Auch füttert sie. Hauptsache, sie schluckt es.“
Das kam so unvermittelt, dass es ihr vor Schreck in den Magen fuhr. Er hob den Kopf, und sein fragender Blick traf sie. Sie sah weg. Aber er hatte ja recht. Sie musste Juli ruhig halten. Sie zum Schlafen zu bringen war die einfachste und auch die einzige Möglichkeit, wenn sie nicht wollte, dass das Geschrei ihrer Tochter jemanden auf sie aufmerksam machte.
Also nickte sie.
Der Mann ließ noch einmal seinen Finger vor Julis Gesicht kreisen, während seine Augen nach einer Stelle suchten, die geeignet schien für das Vorhaben. Das Hundebellen war nun nicht mehr zu hören. Hedwig flüsterte mit Juli, die das Gesichtchen zu ihr reckte. Sie nahm ihre Stiefel auf und folgte dem Fremden. Hinter hüfthohem Gesträuch entledigte er sich des Buches, seines Mantels und des Rucksacks. Er klopfte den Schnee flach und förderte ein Döschen aus Horn zutage, dann einen Mörser. Das Döschen enthielt wie zu erwarten die Pillen. Er nahm eine heraus und zerkleinerte sie flink und mit geübten Bewegungen.
Hedwig hatte sich auf die Fersen gesetzt, sie nahm Juli aus dem Tragetuch. Sie stank. Noch hatte Juli deshalb kein Gezeter angestimmt, aber genau dies würde unweigerlich bald geschehen. Gestern Nacht, unter dem Baum, hatte sie sie schwerlich frisch machen können. Und nun irrten sie schon Ewigkeiten durch diesen Wald, ohne dass sie eine Ahnung hatten, wo sie waren und ob sie Hilfe finden würden.
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