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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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entwickelte.
    Beide Theorien sind ausgeschmückt mit Verweisen auf EEG – Studien, Erforschung von Verletzungen, biochemische Studien, Simulationen neuronaler Netzwerke, Zellmessungen und Tierstudien, aber all diese empirische Macht ändert nichts an der Feststellung, dass sie sich widersprechen: Crick und Mitchison haben ihre Theorie in dem berühmten Satz zusammengefasst: »Wir träumen, um zu vergessen«, während Winson denkt, dass wir gerade träumen, um besser zu behalten. Beiden Theorien ist die Vorstellung gemein, dass Träume eine Funktion haben, die intensiv mit der Verwaltung von Erinnerungen verbunden ist. Eigentlich ist es dadurch umso seltsamer, dass man gerade Träume vergisst.
    Also noch einmal: Warum haben wir so ein schlechtes Gedächtnis für Träume?
Träume und Zeit
    Der Film Histoire d’un crime (1901) des französischen Regisseurs Ferdinand Zecca dauert keine sechs Minuten.
Anmerkung
Darin sehen wir fünf Szenen: Der Hauptdarsteller begeht einen Raubmord – wird in einer Kneipe verhaftet – die Polizei konfrontiert ihn mit der Leiche – er verbleibt in der Zelle – wird unter der Guillotine enthauptet. Die historische Bedeutung des Films steckt in dem Geschehen der vierten Szene. Der Mörder liegt in seiner Zelle auf der Pritsche. Über seinem Kopf ist plötzlich ein Rückblick auf sein Leben zu sehen: Wie er als Kind zum Arbeitsplatz seines Vaters kommt, als Junge gemeinsam mit seinen Eltern isst, als junger Mann mit einem Freund in der Kneipe sitzt. Histoire d’un crime enthielt die erste Rückblende in der Geschichte des Films. Dieser Bruch mit der linearen Chronologie war Teil eines sich schnell entwickelnden Repertoires von Zeitmanipulationen. Als Auguste und Louis Lumière 1895 ihre ersten Filme zeigten, bekam das Publikum Kurzfilme zu sehen, die bestimmte Ereignisse zeigten: »Arbeiter verlassen die Lumière-Werke«, »Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Clotal«. Aber im ersten Jahrzehnt nach dem Jahrhundertwechsel veränderte sich der Film in ein Medium, das eine Geschichte erzählen konnte. Neue Montagetechniken machten dies möglich. Um 1910 waren die meisten Techniken zur Beschleunigung oder Verlangsamung von Zeit, überlappender Zeit, Rückblenden und Vorausblenden eingeführt, und das Publikum hatte gelernt, Filme gemäß der neuen Konventionen anzuschauen.
Anmerkung
    Der Film veränderte das Zeiterleben, bot zugleich jedoch auch eine neue Sammlung von Metaphern im Denken über Träume und Zeit. Schon in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts wurde intensiv über die subjektive und objektive Dauer von Träumen und die Geschwindigkeit geträumter Ereignisse diskutiert. Nach 1910 schien es unmöglich, sich in diesen Debatten außerhalb von Filmmetaphern zu bewegen. Havelock Ellis schrieb 1911, die Schnelligkeit von Träumen sei reiner Schein. In Wirklichkeit habe der Träumende eine Serie von Bildern gesehen, die zusammen »eine Art cinematografisches Drama bilden, das kondensiert wurde, mehr oder weniger so, wie es der cinematografische Künstler macht«.
Anmerkung
    Manche Forscher haben die Erklärung für das Vergessen von Träumen in den abweichenden Zeitrelationen gesucht, die in Träumen aufzutreten scheinen. Dauer und Chronologie von Ereignissen in Träumen erfahren in unserem Gedächtnis seltsame Bearbeitungen. Der Wecktraum zeigt manchmal gleich zwei Abweichungen: die erstaunliche Geschwindigkeit, mit welcher der Traum produziert zu sein scheint, und die Umkehrung der Chronologie. Das berühmteste Beispiel ist der ›Guillotinentraum‹ des französischen Arztes und Historikers Alfred Maury. Er wohnte noch bei seinen Eltern, als er sich eines Tages nicht wohlfühlte und sich kurz hinlegte. Seine Mutter saß an seinem Bett. Er schlief ein und träumte von der Terrorherrschaft. Der Traum war lebendig und detailliert: Er wohnt Exekutionen bei, trifft Robespierre, Marat und Fouquier-Tinville, wird selbst verhaftet, gibt eine Erklärung vor dem Revolutionstribunal ab, wird zum Tode verurteilt, fährt auf einem Karren durch eine riesige Menschenmenge zum Place de la Révolution, besteigt das Schafott, wird auf dem Bretterboden festgebunden, spürt, wie der Henker den Boden kippt, damit er für die Exekution bereitliegt, hört, wie das Fallbeil hochgezogen wird und danach mit einem Schlag auf seinem Nacken landet, spürt auch noch, wie sein Kopf vom Rumpf getrennt wird – und erwacht in diesem Momentangsterfüllt. Er fasst sich an den Nacken: Ein Brett

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