Das Buch des Vergessens
immer erst die eine Geschichte chronologisch erzählen hören und danach, gesondert,den Inhalt der Rückblende. Genau wie soeben bei der Wiedergabe der Histoire d’un crime erhält man erst die eine Geschichte und danach die andere, nicht die eine unterbrochen von der anderen. Das ist nicht nur eine Frage des Erzählens: Wenn man einen Film gesehen hat, scheint es, als würde ihn das Gedächtnis erneut zusammensetzen; an was man sich später erinnert, sind Erzählstränge, nicht die Sprünge in der Zeit, aus der sich die Erzählstränge zusammensetzen. Diese fast nicht zu unterdrückende Vorliebe für eine lineare, chronologische Abwicklung von Erinnerungen ist bei der Reproduktion eines Traums, bei dem man zusehen muss, dass man ihm gegen die Zeitrichtung folgt, eine ziemliche Beeinträchtigung. Man beginnt am Schwanz, und es kostet viel Zeit und Mühe, den Kopf zu erreichen. Das könnte ein Teil der Erklärung sein, warum man sich Träume so schlecht einprägen kann.
REM – Schlaf und Träume
1992 veröffentlichte Michel Jouvet einen kuriosen Roman, Le château des songes (Das Schloss der Träume).
Anmerkung
Jouvet war damals Professor für Medizin an der Universität von Lyon und bekannt als Veteran in der Erforschung der Neurophysiologie von Schlafen und Träumen. Er entdeckte 1959 den ›paradoxen Schlaf‹, die Phase, in der das EEG – Muster dem eines wachen Menschen sehr ähnelt. Jouvet ließ das Schloss der Träume mit einer Person beginnen, die einen antiken Hutkoffer erstanden hatte und darin den wissenschaftlichen Nachlass eines Forschers aus dem achtzehnten Jahrhundert vorfand, eines gewissen Hugues La Scève. Dieser La Scève hatte über zwanzig Jahre lang seine eigenen Träume festgehalten, was eine ›Onirothek‹ bzw. Traumkollektion von etwa fünftausend Exemplaren ergab. Außerdem hatte er etliche Experimente durchgeführt, deren Ergebnisse er in einem Journal notierte. Als Roman ist Das Schloss der Träume vielleicht nicht berauschend. Aber rundum faszinierend ist das wissenschaftshistorische Gedankenexperiment, das darin steckt. Denn was hätte ein Mensch aus dem achtzehnten Jahrhundert – ohne die heutigen technischen Möglichkeiten – schon entdeckt haben können, wenn er nur gewusst hätte, worauf er achten musste?
Im achtzehnten Jahrhundert heißt Wissenschaft vor allem Beobachten. La Scève beginnt seine Untersuchung damit, dass er beobachtet, wie ein Schläfer sich verhält. Seine erste Versuchsperson ist der Schweizer Hans Werner, ein baumlanger blonder Kavallerist im Dienste der königlichen Garde. Für vierzehn Golddukaten ist er bereit, sich eine Nacht lang im Schlaf beobachten zu lassen. Nach dem Abendessen und einem duftenden Bad begibt sich Werner zur Ruhe. Es ist eine warme Nacht, der Kavallerist liegt nackt unter einem Laken und schläft schnell ein. La Scève stellt Kerzen im Kreis um das Bett und richtet sich mit Notizheft, Gänsefeder und einem Chronometer an einem kleinen Tisch ein. Nach etwa anderthalb Stunden verändert sich die Atmung des schlafenden Soldaten. La Scève eilt herbei und sieht, wie Werners Augen halb geöffnet sind und sich nach allen Seiten bewegen. Die Halsschlagadern sind geschwollen. Das Herz schlägt unregelmäßig. Aber die auffallendste Veränderung zeichnet sich unter dem Laken ab: eine vollständige Erektion. La Scève weckt seine Versuchsperson – »Kavalier Hans Werner, wachen Sie auf!« – und fragt, was er geträumt hat. Werner erzählt, er sei im Traum in einem Garten herumspaziert und habe die Düfte genossen. Er schläft prompt wieder ein. Eine halbe Stunde später wiederholt sich die Szene. La Scève sieht, wie sich eine vollständige Erektion in weniger als einer Minute einstellt, weckt den Soldaten und bekommt wiederum einen Traum ohne erotische Bedeutung zu hören. Gegen Morgen beobachtet La Scève zum dritten Mal eine Erektion, die während des gesamten Traums anhält, etwa zwanzig Minuten.
Dieser Befund schreit geradezu nach einer Vergleichsstudie. La Scève beruft sich auf die wissenschaftliche Bedeutung, um seine Geliebte Béatrix dazu zu überreden, die Nacht mit ihm zu verbringen. Er wartet, bis er wieder schnelle Augenbewegungen unter halb geschlossenen Lidern wahrnimmt. Die unruhige Atmung weist darauf hin, dass sie träumt. Mit der Hand überzeugt er sich davon, dass ihre Scheide warm und feucht ist. Zufrieden notiert er in seinem wissenschaftlichen Journal den empirischen Beweis, dass dieReaktionen der Frau beim
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