Das Buch des Wandels
noch einen Schritt weitergehen und ganz auf Organisation, Hierarchie und Führung verzichten? Lesen wir nicht überall von »Schwarmintelligenz« und »Autopoietischen Netzwerken« und »Crowdsourcing« und »Distributed Innovation«? Könnte man nicht theoretisch alle Dienstleistungen, Teile eines Produktes, einschließlich der Innovation selbst, auf dem Netzwerkmarkt zusammenkaufen, bequem per Internet und Bieterversteigerung?
Schon in den dreißiger Jahren wies der Wirtschaftswissenschafter Ronald Coarse nach, dass die »direkte Marktassoziation«, die Wirtschaftsaktivität ganz ohne Organisationsstruktur, nicht gut funktionieren kann. 6 Der Grund liegt in der im letzten Kapitel geschilderten Mehr-ist-Anders-Regel. Netzwerke haben nicht nur eine Effektivitätsfunktion. Sie können auch Entscheidungen bremsen und Mobilität behindern.
Jeder, der schon einmal ein Unternehmen gegründet hat, kennt diesen Effekt. Wenn man zu zweit ist, lassen sich alle Entscheidungen schnell und effektiv treffen. Deshalb wächst die kleine Firma schnell, alle Entscheidungen werden quer über den Flur getroffen. Bald werden die ersten Mitarbeiter eingestellt. Da man den Geist des Unternehmens bewahren will, versucht man weiterhin, die Entscheidungen auf kurzen Wegen und im Konsens zu treffen. Aber der Alltag verhindert das. Bei fünf Leuten beträgt die Anzahl der nötigen Koordinationstreffen schon 25. Bei 30 Mitarbeitern wären fast 1000 Einzelabstimmungen nötig, damit alle Mitarbeiter sich mit allen koordiniert hätten. Die kommunikativen Transaktionskosten werden in nichthierarchischen Systemen so hoch, dass sie jede Aktion komplett blockieren. Genau das war der Punkt, an dem sich in den WGs und den Alternativkollektiven der siebziger Jahre Cliquen oder »Gurus« herausbildeten, die sich langsam den ganzen Laden unter den Nagel rissen mit dem Argument: »Wir wollen ja eigentlich gar keine Macht, aber wir
stehen zu unserer Verantwortung, weil’s sonst nicht vorangeht.« Das Prinzip Politbüro entsteht aus lauter guten Wünschen, aber uneffektiven Organisationsformen.
Komplexere Lebewesen wie auch Organisationen funktionieren letztlich auf der Basis einer Priorisierung von Kommunikation. Gene werden an- oder ausgeschaltet – und nicht beides zugleich. Zellen kommunizieren nach bestimmten Input-Output-Regeln miteinander. Synapsen werden aktiviert oder beruhigt. Es sind Ordnungen von Kommunikationen , die Komplexität überhaupt erst möglich machen. Wäre es anders, würde jeder Organismus zu einer amorphen Masse zerfließen, zu »grey goo«.
Unternehmensnetzwerke können in steigender Umweltkomplexität nur dann (dynamisch) stabil bleiben, wenn sie erstens die Autopoiese und Autonomie jeder einzelnen Abteilung drastisch erhöhen. Und wenn sie synchron einen neuen Typus von Führung hervorbringen. Dieser Typus ist als »Manager des Chaos« oder »Poet der Führung« schon hinreichend hymnisch beschrieben worden. Letztlich gibt es dafür keine Standardregel: Jedes Unternehmen tickt anders, und jedes reagiert anders auf bestimmte Schlüsselimpulse. Jedenfalls ist »Kontrollführung« an ihrem Ende angelangt. Die Kernaufgabe besteht in einem völlig anderen Umgang mit Menschen, die zur Selbstentfaltung innerhalb ihrer Möglichkeiten, Kompetenzen und Kontexte gebracht werden wollen. Dirk Baecker, Professor an der Zeppelin-Universität, spricht in diesem Zusammenhang von »postheroischem Management«, weil »grandiose Gesten nicht geeignet sind, andere zur Mitarbeit anzuregen.« 7
Führung von morgen: das Dr.-House-Prinzip
Um dies zu illustrieren, müssen wir uns in eine Fantasiewelt begeben, die dennoch in vielerlei Hinsicht äußerst real ist. In das allgemeine Krankenhaus von Princeton in den USA, eines der besten Krankenhäuser der Welt (auch wenn es so nur in der Fiktion
existiert). Hier arbeiten Dr. Gregory House und sein Team im Stellungskrieg zwischen Leben und Tod.
Der Name »Dr. House« ist, wie Kenner einer der erfolgreichsten Fernsehserie der Welt versichern, eine stille Hommage an »Dr. Seltsam«, den verrückten Wahrscheinlichkeitstheoretiker in Kubricks »Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben«. Und seltsam ist Dr. House in der Tat. Er hinkt aufgrund einer schlecht verlaufenen arteriellen Operation. Er ist drogenabhängig (von euphorisierenden Schmerzmitteln, wie Michael Jackson). Er hat ungeheuer schlechte Laune. Er fährt Harley-Davidson-Maschinen und interessiert sich für Frauen allenfalls wie
Weitere Kostenlose Bücher