Das Buch des Wandels
die Coevolution zwischen (vorwiegend männlichen) Hirnen und dem Automobil stürmisch und dynamisch. Als hätte das Auto (beziehungsweise sein »Meta-Organismus« aus Straßen, Tankstellen, Autofirmen, Autohändlern) seinen Protagonisten, den Autofahrer, regelrecht »gezüchtet« (und »melkte« das System Auto unser Dopamin), wurden immer mehr, immer schnellere, schwerere, schönere, teurere Autos gebaut und gekauft. Doch seit einiger Zeit scheint diese Dynamik gebrochen.
Da ist, einerseits, die CO 2 -Debatte. Aber das ist, wie wir aus Erfahrung wissen, nur ein beschränktes Argument. Ökologische Motive werden in allen Umfragen euphorisch hochgehalten, in Alltagsentscheidungen spielen sie eher eine geringe Rolle. (Viele Autofanatiker haben in den letzten Jahren sogar schnelle Autos mit dem Argument gekauft: »Noch mal kräftig Gas geben, bevor auch das verboten wird.«)
Ein wichtiger Grund für die Konditionsschwäche des Automobils als primären Statussymbols hat jedoch auch mit einem sozialen Wandel zu tun. Genauer: mit der Krise einer bestimmten sozialen Gruppe. Und mit einer Veränderung der Zeitökonomie.
Autos fressen neben wertvollen Energieressourcen auch gewaltige Zeitkontingente. Das fiel in einer Zeit, in der Arbeitszeit eher kürzer und die Ökonomie ständig produktiver wurde, kaum auf. Wer aber sitzt über längere Zeiträume in wunderbarer endorphiner Balance am Autosteuer? Das Dienstwagenprivileg stattet die »Organisation Men«, die Festangestellten der industriellen Karrierehierarchien, mit vielen PS aus. Nun aber, da die westliche Wirtschaft schrumpft oder nur noch sehr langsam wächst,
unterliegen Beamte, Manager und Politiker plötzlich einem öffentlichen Verhör. Ärzte werden gefragt, ob sie genug heilen. Lehrer werden gefragt, ob sie Kindern wirklich etwas beibringen. Führungskräfte werden heftig mit der Frage angegangen, ob das, was sie tun, wirklich produktiv ist. Und Frauen fragen ihre Männer immer hartnäckiger, ob sie das, was sie seit den 68er-Tagen versprochen haben, nicht auch mal einlösen könnten: mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen.
Irgendwann kommt man darauf, dass das ausgiebige Autofahren eine eigentlich unproduktive Verschwendung von Zeitressourcen ist. Millionen Mannstunden im Jahr! Nimmt man hohe Verbrauchs- und Unterhaltskosten für große Wagen hinzu, dann wird verständlich, wie gleichsam über Nacht die kollektiven Bewertungssysteme kippen und dicke, schnelle Limousinen zu Karossen für reiche Russen und impotente Angeber umcodiert werden. Wer nun ein PS-starkes Auto besteigt, erinnert uns nicht mehr an Sieg, Prestige und Macht. Sondern an Übertreibung, Verschwendung, Scheitern.
Der Einbruch des Autoabsatzes im oberen Segment ist deshalb mehr als nur eine vorübergehende Absatzschwäche. Er markiert einen beginnenden Wertewandel, in dem die Dominanz eines bestimmten Männertypus zu Ende geht. Der Organisation Man war der Aufsteiger des letzten Halbjahrhunderts, und sein Aufstieg verlief parallel zu den Verkaufszahlen der schnurrenden Boliden im Oberklassesegment. Wenn es Anfang des 21. Jahrhunderts einen Archetypus für Erfolg und Karriere gab, dann war es die Figur des Finanzanalysten. Doch genau die Banker und Broker, die die schnellsten Autos fuhren, erlitten den größten Prestigeverlust.
Anfang Dezember 2008 traten die Bosse der amerikanischen Autogiganten erneut in Washington an. Diesmal fuhren sie mit einem kleinen Auto vor, in dem alle vier CEOs hockten, etwas gedrängt, um nicht zu sagen gebückt. Es war ein Chevrolet VOLT, ein Elektroauto-Prototyp. Wenig später saßen die mächtigsten
Männer der US-Industrie wie Schulbuben vor dem Kreditvergabe-Ausschuss des Senats und bettelten um Milliarden. Sie versprachen, ihre Privatjet-Flotte zu verkaufen. Und für einen Dollar pro Jahr zu arbeiten!
Die Evolution der Organisationen
Wozu gibt es überhaupt »Unternehmen«? Bis in die frühe Neuzeit hinein blieben unternehmerische Tätigkeiten in Gilden, Handwerksassoziationen und Verbindungen freier Händler organisiert. Allenfalls die Kirchen ähnelten in ihren Organisationsstrukturen dem, was man »zielgerichtete Organisation« nennt. Erst in der industriellen Welt entstanden jene kapitalgetriebenen Strukturen, die wir als »Firmen« bezeichnen.
Jedes Unternehmen besteht in seinem produktiven Kern aus einer aufwendigen Mobilisierung von Disziplin, Struktur, Technologie und Kontrolle. Jede Operation, die ein Unternehmen unternimmt – eine
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