Das Buch des Wandels
auf seiner Bahn schreitet.
Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt.
Friedrich Nietzsche
Beim Tanzen gibt es keine Fehler, nur Variationen!
Flavio Alborino
Tanzen lernen
Wir schreiben das Jahr 1984. In England herrscht Klassenkampf. Der längste Bergarbeiterstreik des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt sich zur Kraftprobe zwischen der »Eisernen Lady« Margaret Thatcher und der Bergarbeitergewerkschaft des Arthur Scargill. Die Kohlenminen Nordenglands, das Herzstück des proletarischen Stolzes, sind von Schließung bedroht, und die klassenbewussten Kohlenarbeiter begehren verzweifelt dagegen auf. Auf den Hügeln rund um die Zeche steht bewaffnete Polizei, und jeden Tag kommt es zu Straßenschlachten.
Inmitten dieses letzten großen Abwehrkampfes der alten industriellen Klassenwelt lebt Billy, ein elfjähriger Junge. Seine Erfahrung mit Erwachsenen ist von Abwesenheiten geprägt: Vater und älterer Bruder sind meistens »unter Tage«, er selbst muss auf seine
verwirrte Oma aufpassen, seine Mutter ist gestorben. Der Kultfilm »Billy Elliot – I will dance« zeigt Billys Metamorphose von einem Bergarbeiterkind zum Künstler.
Der Sport des Proletariats ist das Boxen. Auch aus Billy soll nach dem Willen seines Vaters ein guter Zuschläger werden. Aber heimlich liebt er das Tanzen. Er tanzt zu »Cosmic Dancer« von T. Rex. Er tanzt vor dem Spiegel, er tanzt, statt zu boxen, mit dem Sandsack. Natürlich gilt das in der Kultur des Arbeitertums als peinlich und schwul. Doch die Ballettlehrerin des Ortes, die resolute Mrs. Wilkinson (auch sie eine zerrissene, von Sehnsüchten geplagte Gestalt), erkennt sein Talent und stärkt ihm den Rücken.
Als Billys Vater erfährt, dass er den Boxunterricht geschmissen hat, reagiert er mit einem Tobsuchtsanfall. Billy fährt trotzdem nach London, um bei der »Royal Ballet School« vorzutanzen. Die Autofahrt ist eine Elegie des Wandels. Tschaikowskys Schwanensee erklingt, eine Allegorie auf die Verwandlung durch Liebe. Wir lassen das Alte hinter uns und begeben uns auf eine Reise ins Ungewisse. Während die Vergangenheitsgeprägten ihre letzte Energie darauf verschwenden, das Überkommene zu retten, sind es zunächst einzelne Individuen, die via Rebellion, Hoffnung und Ausbruch das Neue suchen. Sie gehen Risiken ein. Sie müssen das Vertrauen aufbringen, dass am anderen Ufer des Flusses auch eine Welt existiert.
Aber, so zeigt uns der Film: Die Pioniere des Neuen sind nicht allein. Sie finden Unterstützung durch Mentoren und Helfer, die ihren Weg begleiten. Denn in jeder Gesellschaft existiert die Zukunft schon in einer latenten Hoffnung, die zunächst durch isolierte Einzelgänger verkörpert wird. Wenn diese Einzelgänger zu kooperieren beginnen, entsteht Bewegung und schließlich jene Resonanz, die die Verhältnisse auf breiter Front zum Tanzen bringt.
In »Billy Elliot« wird der Vater schließlich zum Streikbrecher, um seinem Sohn den Ausbruch aus der alten Klassenordnung
zu ermöglichen. In diesem Verrat zeigt sich der endgültige, der eigentliche Wandel: Das Neue transformiert das Alte.
Ist es Zufall, dass Tanz in vielen Erzählungen über den menschlichen Wandel eine so große Rolle spielt? »Der letzte Tango in Paris« – die Geschichte einer Metamorphose des Alters. »Dance for all« – die wunderbare Geschichte der Tanzschulen in den Townships von Südafrika, betrieben von William Forsythe. Die Arbeit von Royston Maldoon mit »Problemjugendlichen« (»Rhythm Is It«). Die dunklen Sehnsuchtsgeschichten des finnischen Tangos in Kaurismäki-Filmen. Die Geschichte des Wiener Walzers als Rausch und Verheißung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. »Die Verhältnisse zum Tanzen bringen« ist eine erfüllbare Hoffnung, auch in schweren Zeiten.
Wenn die Verhältnisse ins Tanzen geraten, müssen wir unsere Schrittfolgen ändern. Wir beginnen, uns zu einer Melodie zu bewegen, die uns fremd erscheint. Das ist zunächst immer tastend und ungelenk. Aber irgendwann entsteht ein neuer Rhythmus. Bisweilen kann dabei eine Instanz helfen, die wir in unserer Apologie des Wandels bislang vernachlässigt haben: die Politik.
Abschied vom Bruttosozialprodukt
Wenn Menschen etwas verändern wollen, suchen sie nach Maßstäben, an denen sich Fort- oder Rückschritt messen lässt. Wenn wir unser Gewicht reduzieren wollen, stellen wir uns auf die Waage. Wenn wir den Erfolg einer Firma beurteilen, schauen wir auf Kennziffern. Messkriterien sind das A und O des Wandels: Erst seit es
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