Das Buch des Wandels
PISA gibt, diskutieren wir ernsthaft über das Bildungssystem: Wir können vergleichen!
Aber welches Messkriterium legen wir an, wenn es um die zentrale Kategorie unseres Lebens geht? Das, was wir Wohlstand nennen?
Bislang schien das einfach: Unsere Zukunftserwartungen orientierten sich am Bruttosozialprodukt. Wann immer dieser Wert, von den Auguren der Ökonomie verkündet, stieg, hellte sich unsere Stimmung auf. Wenn das Bruttosozialprodukt stagnierte oder gar sank, machte das Wort von der Krise die Runde. Angst, ja sogar Panik breitet sich aus, wenn die Gesamtwirtschaftsleistung nicht mehr wächst.
Die Fixierung auf Bruttosozialprodukt und quantitative Wachstumsraten erscheint heute in vielerlei Hinsicht fatal. Erstens gehen die Wachstumsraten in unseren Breitengraden seit Jahrzehnten stetig zurück – und diese Tendenz wird sich weiter fortsetzen. Betrug das westeuropäische BSP-Wachstum in den sechziger Jahren noch 5 bis 6 Prozent (die Hälfte des heutigen Wachstums von China), sank es in den Siebzigern auf 4, in den Achtzigern auf 3, in den Neunzigern auf 1,5 Prozent und jenseits der Jahrtausendwende auf unter 1 Prozent. In einer entwickelten Konsum- und Wohlstandsgesellschaft wird es immer schwieriger, die Wirtschaftsleistung nominell zu steigern.
Zweitens liegen schon in der Mathematik des Wachstums Tücken. Im BSP werden zum Beispiel alle Autounfälle, Begräbnisse, Umweltverschmutzungen, Katastrophen, psychiatrische Behandlungen als positive Wertschöpfungen geführt. All das sind »Wirtschaftsleistungen«. Wenn wir unsere Alten in Heime stecken, gilt das als Steigerung des Bruttosozialproduktes – wenn sie sich zu Hause wohlfühlen, nicht! Damit werden Fehlanreize gesetzt, die verhängnisvolle Auswirkungen haben können.
Drittens aber trifft der Wachstumsfetischismus nicht mehr die tieferen gesellschaftlichen Gefühle. Immer mehr Menschen ahnen, erfahren, erleben, dass die Vermehrung der materiellen Güter nicht mehr den empfundenen Wohlstand steigert. Eher im Gegenteil. Das Glücksversprechen des Konsums ist an eine deutliche Grenze gestoßen.
Die neuere Glücksforschung bietet uns hier eine Alternative. Woran sollen, woran können sich gesellschaftliche Zielvorstellungen
orientieren, wenn nicht am Glück der Menschen? Aber ist Glück nicht etwas zu Ehrgeiziges, um es ins Zentrum des Zukunftsdiskurses zu setzen? Bedeutet es nicht auch für jeden etwas anderes? Für John Keats bedeutete es »Bücher, Früchte, gutes Wetter und leise Musik, die von jemanden gespielt wird, den man nicht kennt«. Für den Schriftsteller Ian Banks wäre das Glück »der Weinkeller des Champanay Inn-Hotels in Linlithgow in Schottland – wenn er keine Fenster hätte und ich kein Atheist wäre«. 1
Seriöse Glücksforschung handelt keineswegs von euphorischen und verliebten Menschen in Cabriolets. Sie ist längst keine reine Phänomenologie mehr, sondern eine ernsthafte Analyse der Bedingungen, unter denen Menschen erweitertes Wohlergehen erfahren. 2 Glück setzt sich aus Gefühlen und Gedanken zusammen, es definiert sich als neuronale und körperliche, aber auch kognitive Funktion. Glückliche Menschen müssen nicht immer »froh« oder »happy« sein. Im Gegenteil. Glückliche Menschen empfinden temporäres Unglück und Frustration als sinnhaft. Sie lassen sich nicht durch eine momentane Gefühlslage aus dem Gleichgewicht bringen. Sie erwarten, Erfahrungen zu machen, die schwierig sind. Und an denen sie wachsen können.
Unter der Rubrik »Happiness Economics« hat sich auch die Wirtschaftsforschung der Glücksproblematik angenommen. Immer tiefer und differenzierter werden die Studien und Methoden: Edward Diener (»Dr. Happiness«) von der Universität von Illinois entwarf einen Fragebogen zur weltweiten Lebenszufriedenheit und berücksichtigte die Subjektivitätsverzerrung – er bezog das Urteil von Freunden und Familie über die Lebenszufriedenheit der Befragten mit ein. Daniel Kahneman entwickelte eine neue differenzierte Methode der Zufriedenheitsmessung, die »day reconstruction«-Methode. Hierbei füllen die Teilnehmer ein Tagebuch und einen Fragebogen über jede Stunde des Tages aus, wobei sie ihre Gefühle mit Hilfe einer Sieben-Punkte-Skala ausdrücken.
Das deutsche Wort »Glück« birgt gleich mehrere problematische Komponenten: »Glück haben« meint sowohl den Eintritt
glücklicher Fügungen (Zufälle, dem englischen »chance« entsprechend) als auch einen Zustand von »euphorischer Zufriedenheit«.
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