Das Buch des Wandels
Bildungssystem ist Wandlungsmotor jeder kreativen Ökonomie und Gesellschaft. In Ländern mit erfolgreichen Schulsystemen gilt der »Talentismus«: Nicht die Noten und der Abschluss stehen im Zentrum aller pädagogischen Anstrengungen, sondern immer der individuelle Schüler und sein Talent. In der Politik des kreativen Weges gilt: Unbegabte Schüler gibt es nicht. Alle Menschen sind neugierige Wesen voller Sehnsucht nach sich selbst – wir können ihnen bei dieser Suche helfen. Für diese Ausrichtung am Individuum werden alle Aspekte von Schule und Bildung auf den Prüfstand gestellt, von der täglichen Schulorganisation (Aufhebung starrer Stundenpläne, Ganztagsschule mit gutem Essen) bis zur Unterrichtsgestaltung (gruppenzentriertes »Selbstlernen« statt Frontalunterricht, individuelle Förderung von Schülern, Experiment- und Explorationsprimat). Die gesellschaftliche Wertschätzung der Schule als Bildungseinrichtung (die sich nicht zuletzt in einer ausreichenden Finanzierung ausdrückt) und die Verankerung in der unmittelbar umgebenden Gemeinschaft sind weitere entscheidende Punkte für den Erfolg.
In der Altersvorsorge hat die Schweiz eine vorbildliche Lösung gefunden. Die Schweiz hat bereits vor 50 Jahren ein »Cappucino«-Rentenmodell entwickelt, das dem demographischen Wandel robuster standhalten kann. Zur staatlichen Grundsicherung kommt eine staatlich geförderte, aber obligatorische Privatversicherung, dazu noch eine steuerlich entlastete Privatlebensversicherung. Alle, auch die höheren Einkommensklassen, zahlen in die Grundsicherung, die nur ein Grundeinkommen im Alter deckt. Die Schweizer bleiben deutlich länger im Beruf – und sind, was die demographischen Probleme angeht, viel gelassener. Ähnliche Konzepte hat auch Schweden entwickelt, wo auf den Rentenkapitalmärkten der Staat als direkter Anbieter auftritt: Man kann seine private Rentenversicherung in einem staatlichen Sparfond zu sehr günstigen Verwaltungskosten anlegen. Dadurch werden alle anderen Anbieter am Markt zu hoher Preis- und Effektivitätsdisziplin gezwungen.
Ein letztes Beispiel, die Drogenpolitik. Bis vor kurzem war die Therapie harter Drogen wie Heroin mit Tabus belegt. Alle konservativen Parteien in Europa votierten schlicht gegen jegliche Substitutionsversuche, und zwar mit denselben Argumenten, mit denen die katholische Kirche für die jungfräuliche Ehe plädiert. Doch still und heimlich setzt sich in praktisch allen europäischen Großstädten die kontrollierte Vergabe von Heroin an Langzeitsüchtige durch – seit Jahren sinkt die Zahl der Drogentoten und Neukonsumenten. Der »Economist«, ein eher konservatives Blatt, setzte sich vor kurzem sogar auf einem Titel für die staatliche Teil-Legalisierung von Heroin weltweit ein. Alle Studien, Untersuchungen und praktischen Erfahrungen belegen, dass Heroinsüchtige, die den Stoff legal vom Staat erhalten, länger und gesünder leben und fast komplett aus dem Kriminalitäts milieu verschwinden. Diese Maßnahme hat bis jetzt auch nicht zu einer »opportunistischen Zunahme« der Heroinsucht geführt. 19
Natürlich benötigt evidenzbasierte Politik Anpassungsschritte in Raum und Zeit – die einzelnen Modelle lassen sich nicht immer
eins zu eins auf die jeweilige Situation, das spezifische Land, die Region übertragen. So könnte man zum Beispiel einige Zeit in einer Stadt Heroin an Drogensüchtige ausgeben, in einer weiteren Ersatzstoffe, in einer dritten die Zahl der Sozial- und Streetworker erhöhen plus den repressiven Druck auf die Drogensüchtigen. Und nach einiger Zeit die Ergebnisse messen. Und entsprechende Weichen stellen.
Das Prinzip Sesamstraße
Wo bleibt, möchte man jetzt einwenden, in einem solchen pragmatischen Politikmodell der politische Idealismus? Ist zum Beispiel der Erfolg von Barack Obama nicht ein Produkt der Sehnsüchte nach dem ganz großen Wandel? Kann Politik überhaupt ohne jene glühenden Energien der Utopien und Werte-Ideologien auskommen, mit denen man Massen und Meinungen mobilisieren kann?
So euphorisch die Anhänger Barack Obamas in den Wahlzeiten auch gewesen sein mögen, so pragmatisch agiert doch Obama selbst. Kluge Kommentatoren bezeichnen ihn heute als »ersten empirischen Präsidenten«, der Intellekt über Emotion stellt. Ganz pfiffige Analytiker bezeichnen ihn als »Ersten Sesamstraßen-Präsidenten der Welt«. 20
Obama gehört zu jener globalen Generation, die mit der Kinderbildungsserie »Sesamstraße« aufgewachsen ist. Die
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