Das Buch des Wandels
Fischereiunternehmer, Politiker, Künstler, Designer. Also die Bewohner Islands. Sie üben Zukunft. Geplant ist eine Großversammlung im Stadion, auf dem 1500 Isländer in moderierten Gruppen über die Zukunft ihres Landes nach der Krise beraten sollen.
»Niceland«, wie die Isländer ihre Insel inzwischen ironisch getauft haben, ist ein ungewöhnliches Zukunftslaboratorium am Rand der arktischen See. Besiedelt vor Tausenden von Jahren von Wikingern, die von hier aus nach Grönland und Amerika aufbrachen, entwickelte es sich zum Musterbeispiel einer kooperierenden Demokratie. Die 360 000 Isländer gehören zu den bestgebildeten, gesündesten, glücklichsten Bewohnern des Planeten. Sie leben eine Kombination aus Freiem Markt und Sozialismus, aus Kosmopolitismus und Bodenständigkeit, aus kollektiver Verwandtschaft und exzentrischem Individualismus, aus puritanischem Fleiß und hedonistischer Lockerheit.
Anfang des Jahres 2009 befand sich das kleine Paradies im schwarzen Strudel der Krise. Der virtuelle Reichtum, den die Isländer in den globalen Finanzboom-Jahren auf die Insel geholt hatten (vorher war Island vor allem ein Außenposten der NATO im Atlantik gewesen), kollabierte über Nacht. Die Währung brach um 80 Prozent ein, die Unternehmen verloren 90 Prozent ihres Börsenwertes, 30 000 Hausbesitzer waren plötzlich bis zum Hals überschuldet. Die Kräne, die sich in der Hauptstadt Reykjavík rund um die Uhr gedreht hatten, standen still.
Wie soll ein kleines Land, das plötzlich Milliarden Dollar Schulden hat, dessen Banken kollabierten, sich jemals wieder davon erholen? Wovon sollen die Isländer, bislang an Vollbeschäftigung bis ins siebte Lebensjahrzehnt und einen komfortablen Sozialstaat gewöhnt, in Zukunft leben, wenn sie nicht mehr von den Strömen des internationalen Kapitals profitieren?
Im Winter 2008/2009 entwickelte sich auf der Insel zum ersten Mal seit den Auseinandersetzungen um die US-Stützpunkte
des Kalten Krieges wieder eine Protestbewegung. Die »Bewegung der Kochtöpfe« heizte den Politikern ein, besetzte teilweise sogar das gemütliche Parlament, in dem man sich seit 400 Jahren mit dem Vornamen anredet. Und dann begannen die Isländer, ihre Gesellschaft von innen her neu aufzubauen.
Eine charismatische Figur, die sich für die Sache starkmachte, fanden die Isländer in Gudjon Mar Gudjonson, dem Gründer der legendären Computerfirma OZ, einer der größeren isländischen Software-Firmen, die das »cloud computing« entwickelt, jene Wolke des Internets, die die nächste Generation der Computerwelt prägen wird. Gudjonson, den alle nur Gudjon nennen, spricht von einem »rebooting« der isländischen Wirtschaft, einer völlig neuen Ökonomie, die die Isländer als Bürger gemeinsam entwickeln müssen, in einer »Wolke von Innovationen«, in einem Open-Source-System.
Wie sieht eine Gesellschaft nach dem großen Crash aus? Wer Reykjavík durchstreift, sieht eine Gesellschaft im Kokonzustand. Die Bauruinen und leerstehenden Büros wirken wie Bühnen, auf denen jederzeit neue Aufführungen beginnen können. Eine seltsame Gelassenheit hat sich breitgemacht. Die alte Einkaufsstraße Laugavegur, die von der Innenstadt zu den heißen Quellen führt, in denen einst Reykjavíks Waschweiber die Wäsche wuschen, verlor lange Zeit ihre Kunden an die glitzernden Einkaufszentren. Nun regt sich neues Leben; Designer, kleine Modeläden, Buchhandlungen ziehen in die wieder erschwinglichen Ladengeschäfte. Wo vorher Filialen der Luxusmarken das Feld beherrschten, entstehen jetzt wuselige kleine Restaurants und Secondhand-Boutiquen mit rührenden Namen wie »E-Label« oder »Fabelhaft«.
Wenn man eine Menge Geld leiht, um falschen Wohlstand zu erzeugen, importiert man die Zukunft in die Gegenwart. Die Illusionen zerbrachen. Die Gewinner der Krise sind diejenigen, die sich jenseits der Einflusssphäre des großen Geldes befanden, die Außenseiter . Wenn die alten Rituale und Mechanismen nicht mehr wirken, macht die kreative Klasse das Spiel.
Zum Beispiel Alda, Mutter einer fast erwachsenen Tochter und dreier Stieftöchter, die als freie Journalistin für englischsprachige Medien und als Bloggerin arbeitet. Wie viele Isländer ist ihr Leben von globaler Mobilität und Heimatsehnsucht geprägt. Als Sechsjährige folgte sie ihrer Mutter, die einer Scheidung davonlief, nach Kanada und danach zwei Jahre nach Zypern. Später wurde sie von ihrer Mutter verstoßen und enterbt, lebte alleine in einem Haus, als
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