Das Buch des Wandels
äußerst erfindungsreichen und kulturell adaptiven Minorität, die es lernte, mit Höchstleistungen in Wissenschaft, Handel, Kultur ihre Außenseiterrolle zu kompensieren. Und die heute finster entschlossen ist, sich nicht noch einmal an den Rand der Vernichtung treiben zu lassen. Und die islamische, die durch Kolonialismus und den Aufstieg Europas vom 15. Jahrhundert an eine Erfahrung der Demütigung durchlitt, die bis heute andauert. Wie demütigend muss es sein, heute in Flüchtlingslagern auf dem als »eigen« empfundenen Territorium zu leben, dominiert durch eine prosperierende, liberal-moderne Demokratie!
Die palästinensische Gesellschaft, obgleich in den siebziger und achtziger Jahren durch eine Phase der Säkularisierung gegangen, entstammt einer Tradition von Hirten und Kleinbauern, in der der Begriff der Ehre eine herausragende Rolle spielt. Malcolm Gladwell hat die Psychologie solcher Kulturen beschrieben:
»Ehren-Kulturen stammen meistens aus Hochland-Regionen, oder anderen weniger fruchtbaren Gegenden … Wenn man auf einer solchen kargen, bergigen Topographie lebt … züchtet man meistens Schafe oder Ziegen. Die Überlebensfähigkeit eines Farmers hängt von seiner Kooperation in seinem Dorf, seiner Gemeinschaft ab. Ein Schäfer hingegen ist auf sich selbst gestellt. Farmer müssen kaum befürchten, dass ihr Hab und Gut nachts gestohlen wird – ein Kornfeld abzuernten und zu stehlen, ist schwierig. Ein Schäfer hingegen ist unter ständiger Bedrohung, seine ganze Herde zu verlieren. Deshalb muss er aggressiv auftreten, um durch Taten und Worte klarzustellen, dass er nicht schwach ist. Er
muss den Willen haben, auch nur die kleinste Anfechtung seiner Reputation entschlossen zu bekämpfen. Das ist es, was ›Kultur der Ehre‹ meint.« 19
Manche Elemente des palästinensischen Konflikts haben wohl auch Wurzeln in solch tieferen, letztlich durch Knappheiten und Topographie bestimmten Prägungen. Es ist kein Zufall, dass der Islamismus besonders in jenen Ländern an Einfluss gewinnt, die keinen Anschluss an die Moderne, aber auch keinen agrarischen Übergang vollzogen. In den kargen Halbwüsten, wo das nomadische Hirtentum traditionell dominierte, wuchert ein Kultursystem der chronischen männlichen Kränkung, in dem die Frauen umso mehr unterdrückt bleiben, je mehr sich die Männer in unsicheren Rollen wähnen. Wo der »Clash of Cultures« stattfindet, prallen jahrhundertelang verhärtete »Stress-Sedimente« aufeinander. Wo Gesellschaften völlig kollabieren und in Völkermord oder Bürgerkrieg enden, findet eine lange Phase der Fremd- und Selbstabwertung ihre Katharsis.
Dies also bildet die Wolken der »dunklen Materie« auf der Landkarte des Wandels, die Ursache der zivilisatorischen Katastrophen und des großen Scheiterns: strukturelle Angst, chronifizierter Stress und anhaltende Demütigung. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Angst in richtiger Dosierung ein genuiner Antreiber der Wandels ist. »Diese ängstliche Erregung ist unerträglich – ich hoffe nur, dass sie ewig dauert«, meinte Oscar Wilde einst. Wir alle sind im Grunde Nachkommen derjenigen, die ihre Angst in realistische Furcht und kontrollierte Taten umsetzen konnten. In welchen Zyklen und Rhythmen, nach welchen Regelsystemen diese Leistung Fortschritt und Wohlstand produzieren kann, davon handelt das nächste Kapitel.
3 DIE ZYKLEN DES FORTSCHRITTS
Über schnellen und graduellen Wandel
Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.
George Bernard Shaw
Fortschritt besteht nicht in der Verbesserung dessen, was war, sondern in der Ausrichtung auf das, was sein wird.
Khalil Gibran
Once in a while you get shown the light in the strangest place if you look at it right …
The Grateful Dead
Die Dynamik der Armut
Das Dorf M’bekwale liegt etwa 90 Kilometer südöstlich der Hauptstadt von Tansania, Daressalam, am Rande des größten afrikanischen Wildparks, Selous. Kurz hinter dem Dorfende, wo die schlaglochreiche Straße die Grenze zum Nationalpark passiert, findet sich am Straßenrand eine alte Maschine. Der rostige Kessel gleicht einem gestrandeten Wal, von groben Nieten zusammengehalten. Erst beim genauen Hinschauen sieht man, dass es sich um den Kessel einer Art Lokomotive handelt. »Hamburg, Werft Blohm 1908« steht auf dem rostigen Ungetüm, eingeschlagen auf einer
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