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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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die Säugetierfunktionen, die uns erweiterte Optionen der Kommunikation, der Abwägung und Moderation geben (Kraulen? Streicheln? Streiten?). Und wiederum darüber wölben sich jene mächtigen Daten- und Bildspeicher unseres Neocortex, in denen sich Algebraformeln, Michael-Jackson-Kieckser oder Urlaubsbilder
aus Korfu tummeln. Menschliche Wahrnehmung schaltet relevante Informationen nach einer strikten Reihenfolge frei: Zunächst werden die Signale, die auf existentielle Bedrohungen hinweisen, in die Wahrnehmungszentren geleitet. Dann, mit meist lahmer Verzögerung, werden spezifische Informationen über das Phänomen selbst verarbeitet. Man könnte dies auch das »Scheinriesenprinzip« oder »Tur-Tur-Syndrom« nennen.
    Wie all jene wissen, die in ihrer Jugend das berühmte Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« von Michael Ende gelesen haben, ist Tur-Tur ein Scheinriese, der in der großen Wüste jenseits der gestreiften Berge (die immer einstürzten; welch ein Trauma für eine arme Kinderseele!) lebt. Aus der Ferne ist er ein furchterregender Koloss. Beim Näherkommen schrumpft er jedoch Stück für Stück, und von Angesicht zu Angesicht erweist er sich als äußerst umgänglicher kleiner älterer Mann, der einen in seine Oase zum Teetrinken mitsamt philosophischem Diskurs einlädt.
    Auf einer tagesaktuellen Basis ist die mentale Präselektion harmlos bis nützlich: Sie hilft uns dabei, spontane Urteile zu fällen, ohne riesige Kriterienkataloge zu wälzen. Sie macht uns spontan handlungsfähig, weil wir eher unserem Bauchgefühl folgen, als lange nachzudenken. Ob wir einen Menschen sympathisch finden oder nicht, ist weitgehend von Präselektionen abhängig, deren Spektrum von genetischen Faktoren bis zu Erfahrungswerten aus unserer Vergangenheit reichen kann (Frauen riechen zum Beispiel gerne Männer, deren Geruch ein anderes Immunsystem als das ihrige codiert). Wir alle kennen aber auch die Schattenseiten, jene Momente, in denen ein Urteil plötzlich umkippt. Der geliebte Mensch erweist sich »bei Licht betrachtet« plötzlich als asozialer Mentalkrüppel. Der Nachbar, mit dem wir viele Abende harmonisch gegrillt haben, ist ein kompletter Idiot. (Warum haben wir das nicht früher gemerkt?)
    Dieselbe Flexibilität, die den Menschen zu schnellen mentalen Operationen befähigt, macht ihn also auch empfänglich für die
Dämonen der Überzeichnung, der Feindbildproduktion. Durch Präselektion kann es geschehen, dass ein Vorurteil plötzlich in Handlungen umschlägt. Reflexe werden zu Überzeugungen, Klischees zu dunklen Urteilen. Verbindet sich der Präselektionsmechanismus mit einer kollektiven Hysterie, können Mord und Totschlag die Folge sein.

Das Flugzeug der Angst
    Zivilisatorischer Untergang – und damit im Umkehrschluss auch zivilisatorischer Wandel – lässt sich vielleicht mit einer Allegorie am besten durchdringen, auf die ich in späteren Kapiteln noch zurückkehren werde: mit dem Flugverkehr. Der internationale Flugverkehr ist ein System von gleichzeitiger Robustheit und Fragilität. Rund 30 000 Passagierflugzeuge starten und landen täglich, und fast alle bringen ihre Passagiere heil zurück. Das ist eine einigermaßen erstaunliche Leistung, wenn man sich den überaus komplizierten Mechanismus eines Flugzeugs vor Augen führt.
    Fliegen ist aber eben nicht nur ein »Mechanismus«, sondern ein komplexes System, das sich aus Subsystemen der Kommunikation, Kontrolle, Wartung, aus Prozessen der technischen Evolution und der ständigen Verbesserung der Umgebungssysteme zusammensetzt. Wenn ein Flugzeug abstürzt, passiert dies im Wortsinn nicht aus heiterem Himmel. Flugzeugtechnik ist »redundant« angelegt; viele Funktionen sind doppelt und dreifach vorhanden. Stürzt ein Flugzeug ab, sind mindestens zehn der folgenden Faktoren beteiligt:
    Ein Pilotenfehler
Ein falsch anzeigendes Instrument, oder mehrere
Kommunikationsschwierigkeiten im Cockpit
Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Tower
Technisches Versagen eines Systems
Technisches Versagen mehrerer Systeme

    Falsche oder schlampige Wartung
Verrückte Passagiere
Sehr schlechtes Wetter
Zu gutes Wetter (dadurch Nachlässigkeit der Piloten)
Krankheit / Müdigkeit des Piloten
Krankheit / Müdigkeit des Fluglotsen
Schlechter Flugplatz
Dunkelheit
Mangelnde Erfahrung des Piloten
Zu viel Erfahrung des Piloten
Andere Flugobjekte
    Scheitert eine Zivilisation und geht schließlich unter, ähnelt dies dem Komplexitätsversagen beim Flugzeugabsturz.

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