Das Buch des Wandels
existierten. Die Untersuchungsberichte nach dem Krieg registrierten insgesamt 1222 Massaker an Zivilisten, bei denen mehr als 100 000 Menschen als
Verräter – Kommunisten oder Antikommunisten – auf grausame Weise hingerichtet wurden. 18
Und über allem schwebte immer die Angst vor der Atombombe, deren Einsatz von den amerikanischen Generälen tatsächlich ernsthaft erwogen wurde. Gegen solche Unmengen unkontrollierbaren Stresses kann sich eine Gesellschaft nur durch Regression »wehren«. Der kollektivistische Massenwahn schützt die verletzte Seele vor negativen Gefühlen, die das Individuum zu überschwemmen drohen. Der »verherrlichte Führer« tritt an die Stelle aller enttäuschten Geborgenheits- und Sicherheitswünsche. In jedem der bizarren, blümchenschwenkenden Massenaufmärsche lässt sich das Ausmaß der Angst erahnen, die nun in eine Überkompensation von Harmonie und Geborgenheit umgeformt wird. Und in »revolutionären« Malereien sehen wir das Drama hochsymbolisch illustriert, wenn der allmächtige »Vater« Kim Il-sung im Kreise seiner ihn glücklich und bewundernd anschauenden Schäfchen sitzt. Idyll und Abgrund wohnen in einem künstlichen Universum.
Ein anderes Beispiel, Somalia, die Apokalypse: Wer sich auf Mogadischus Straßen aufhält, wandelt in einer Horrorvision. Leichen und Tierkadaver links und rechts der Fahrbahn, die verbrannten Reste alter Kolonialarchitektur, aus Müll zusammengezimmerte Hütten. Jederzeit kann ein Jugendlicher auf einen schießen, einem ein Stück Brot entringen. Überall Gangs, zerlumpt, drogenabhängig, zu allem entschlossen und gleichzeitig völlig apathisch – »Mad Max« ist ein Spaziergang dagegen. An jeder Ecke herrscht ein anderes Recht. Zum Beispiel die Scharia. Im Juni 2009 hackten islamische Extremisten auf offener Straße in Mogadischu vier Männern jeweils eine Hand und einen Fuß ab. Die 18- bis 25-Jährigen hatten angeblich Waffen und Mobiltelefone gestohlen. Währenddessen befand sich das somalische Parlament auf der Flucht – die Abgeordneten versuchten, sich auf eigene Faust zu den Grenzen des Landes durchzuschlagen.
Es würde zu weit führen, die vielen kleinen Stufen zu beschreiben, die Somalia auf die abschüssige Bahn führten. Natürlich ist der Kolonialismus schuld, die Amerikaner, die Italiener, die arabischen Sklavenhändler, aber auch eine bestimmte Art des afrikanischen Feudalismus, der das Land schon früh ausplünderte. Vor allem ist Somalia ein Paradebeispiel für nichtgelungene Synchronisation sozialer Systeme.
Die Menschen, die auf den Territorium des heutigen Somalia leben, sind von ihrem Ursprung her zutiefst nomadisch geprägt. Noch heute leben 40 Prozent der Bevölkerung als wandernde Hirten, einige Stämme unterhielten noch bis vor wenigen Jahrzehnten eine ungebrochene Kultur der Blutrache, der Klitorisbeschneidung und Ehrenmorde. Jede Zentralgewalt hat sich immer schon über die Interessen der Nomaden hinweggesetzt; nach dem Muster europäischer Nationalstaaten entwickelten sich brüchige Institutionen, die sofort von Interessenskonflikten zerrieben wurden. So konnte sich kein kultureller Transformationsprozess entwickeln, keine Annäherung an die Moderne. Da das Land kaum Landwirtschaft entwickelte, fehlen auch die bindenden Kulturformen der Sesshaftigkeit. Kein Wunder, dass am Ende die Gewalt der Gangs und Warlords steht – bewaffnete Banden bilden die einzigen Ordnungssysteme. Kein Wunder auch, dass am Ende die Scharia siegt. Die Islamisten übernehmen die Macht immer dann, wenn durch soziale Destruktion eine tiefe Sehnsucht nach Rückkehr zu verlässlichen Verhaltensnormen von männlicher Ehre und des tribalen Lebens entsteht.
Ein letztes Beispiel, das Drama Palästina: Ein übervölkerter Siedlungsstreifen am Mittelmeer. Ein Volk mit vielen arbeitslosen jungen Männern, die bereit sind, sich für Allah zu opfern. Jungen Frauen, die sich in belebten Einkaufsstraßen in die Luft sprengen. Männern, die Raketen bauen und sie auf israelische Siedlungen schießen, nur um danach die geballte Macht einer hochtechnisierten Armee zu erleben, die ihre Häuser pulverisiert …
Die Wurzeln des Palästina-Konfliktes reichen weit zurück in die Geschichte. In Jerusalem treffen nicht nur drei Weltreligionen aufeinander, sondern auch zwei Kulturen mit traumatischen Demütigungserfahrungen. Die israelische, die nicht nur von der Erfahrung des Holocaust, sondern auch von 1000 Jahren Diaspora geprägt ist, von der Tradition einer
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