Das Buch des Wandels
Kultur.
Betrachten wir die Entwicklung in der Renaissance, jener Blütezeit Mittelitaliens zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, die synchron drei Basisinnovationen mit sich brachte: das Geldwesen (die Medicis), die Diplomatie (Macchiavelli) und die technische Innovation als »Erfindungshandwerk« (Leonardo da Vinci). Die Renaissance war eine Zeit der Verknüpfungen . Das Genie Da Vincis bestand darin, Kunst und Naturwissenschaften auf kreative Weise zu verbinden – er sah das Schöpferische im Technischen und das Technische in der Natur. Neugier war es, die ihn trieb und ihn deren Namen er Tabus übertrat – etwa die Öffnung des menschlichen Körpers. 5 Macchiavelli suchte nach neuen Formen der Machtstabilisierung und des Gewaltenausgleichs. Und die Geldwirtschaft, die sich von nun an über Europa ausbreitete, begründete den modernen Kapitalismus.
Im Zentrum dieser Innovationen veränderte sich auch das Menschenbild. Ganz anders als in der religiösen Symbolwelt des Mittelalters mit ihrem dualen Prinzip der Heiligen und Teufel, der Himmel oder Höllen (der virtuelle Raum überdeckte wie bei den Maya den Wirklichkeitsraum) stand nun der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens. Die Renaissance sah die Welt nicht mehr als purgatorium realis, als Durchgangsstation in eine jenseitige Wirklichkeit. So entstand jene Subjekt-Objekt-Dualität, jene Selbstreflexivität, die die Moderne in ihrem inneren Wesen ausmacht.
Brutstätten des Wandels liegen oft in den Schnittpunkten verschiedener Kulturen; hier trafen Meme aus unterschiedlichen Mentalitäten, Ideenwelten fruchtbar aufeinander: Athen in der Antike, Alexandria um 200 vor Christus, Florenz um 1400, Venedig im 16. Jahrhundert, England im 17. Jahrhundert, Damaskus im 18. Jahrhundert. Bisweilen können allerdings auch Peripherien eine dynamische Rolle spielen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwies sich das entlegene, kühle Schottland als wahrer Motor von Fortschrittsprozessen. 6 In der aufstrebenden Industriestadt Edinburgh, damals eine der wichtigsten Finanzmetropolen Europas, lebten die größten Denker der Aufklärung Tür an Tür: Lord Kames, David Hume, William Robertson, Adam Ferguson, John Home und vor allem Adam Smith, der Visionär der Arbeitsteilung, der mit seiner Begriffsprägung der »unsichtbaren Hand« so etwas wie eine frühe Spieltheorie des Wandels aufstellte. Hier entstanden neue »holistische« Denkweisen, in denen die Grenzen zwischen den Disziplinen überschritten wurden. »Industrie, Wissen und Menschlichkeit«, schrieb Smith, »sind miteinander durch eine unsichtbare Kette verbunden.« 7
Die schottischen Aufklärer waren Tüftler und Bastler, was sich in Watts Dampfmaschine, in unentwegten Detailverbesserungen in Schiffs- und Straßenbau, Medizin und Chemie ausdrückte. Aber sie waren eben auch Philosophen. Wie in der Geschichte
der Schweiz oder Schwedens spielten auch hier die Gene und Meme einer Gesellschaft eine Rolle, die den Widrigkeiten der Natur seit Menschengedenken mit Erfindungsreichtum und hohen Kooperationsgraden begegnen musste. Die schottischen Clans hatten sich zu keiner Zeit den Zentralmächten gefügt. Der Hunger durch Missernten in den Jahren 1697 bis 1703 kostete Zigtausenden das Leben. 8 Ein puritanischer Protestantismus hatte sich mühsam und unter Opfern gegen den Katholizismus behauptet, seine störrische Menschenliebe fand in öffentlichen Bildungsprogrammen Ausdruck. Adam Smith merkte in seinem »Wohlstand der Nationen« an, dass »nahezu alle gewöhnlichen Leute des Lesens mächtig sind, und ein großer Prozentsatz auch des Schreibens und Rechnens«. 9 Die erste »Encyclopedia Britannica« entstand 1768 in Edinburgh.
Die schottischen Denker setzten sich mit Fragen auseinander, die uns auch heute noch bewegen: soziale Gerechtigkeit, gegenseitige Interessen, Dynamik und Sinn des Reichtums, die Ursachen von Kriegen, Individualität und Gemeinsinn. Ihre wichtigste Erkenntnis bestand darin, dass Selbstinteresse und Altruismus, Moral und Kooperation, Ökonomie und Lebenswelt keine Widersprüche sein müssen, sondern sich auf einer höheren Ebene ergänzen. Von Lord Kames stammt eine der ersten evolutionssoziologischen Abhandlungen über den Wandel der Kulturen von den Jägern und Sammlern bis zum »modernen Handelsmenschen«. Er erkannte damals schon die Bedeutung der Synchronisationsregel. »Die Gesetze eines Landes befinden sich in Perfektion«, schrieb Kames, »wenn sie mit den Gewohnheiten und Umständen der Menschen
Weitere Kostenlose Bücher