Das Buch des Wandels
hervorrufen, die einem Endorphinkick ähnelt. 4 Der Kauf von Konsumgütern der teuren Art erfreut uns deshalb so sehr, weil sich darin ein fernes Echo früherer Jagderfolge zeigt – statt des Speers zücken wir einfach die Kreditkarte. Die Konsumindustrie wäre schlecht beraten, wenn sie all diese Mechanismen nicht ausnutzte. Sie bietet uns eine schier unendliche Fülle von Endorphinersatz: Autos, in denen wir uns fühlen dürfen wie der stärkste und schnellste Jäger. Modelleisenbahnen, mit denen wir die Totalkontrolle über ein komplettes Universum übernehmen können (ich habe allerdings nie verstanden, warum so viele Männerhirne Endorphin ausschütten, wenn sie eine Lokomotive immer im Kreis herum fernsteuern). Cremes oder Parfüms, die jung, glücklich und begehrt machen. Hochdruckreiniger, mit denen man an Samstagen gnadenlos die Umwelt verschönern kann … Yes we can!
Können wir wirklich? Coping ist nur echtes Coping, wenn wir eine selbstgewählte Herausforderung bewältigen. Aber diese Wahrheit lässt sich ebenfalls austricksen. Jede fanatische Bewegung oder totalitäre Partei bedient sich des Übertragungsmechanismus auf den Großen Führer oder das endgültige magische Weltrezept. So beschreibt Diane Benscoter ihre Erlebnisse in der Mun-Sekte als eine »viral-memetische Infektion« – die Herstellung einer Pseudo-Coping-Erfahrung durch Gemeinschaft und Verzückung. 5
So sehr uns die Coping-Kaskade auch antreibt und zum Wandel motiviert, so tückisch können ihre Verschaltungsfehler sein. Die Schmerzbahnen im Hirn liegen in unmittelbarer Nähe der Areale für Glücksgefühle, beides ist aus neurologischer Sicht
manchmal nicht zu unterscheiden. Wenn in unserer Kindheit eine Coping-Erfahrung mit einer Schmerzerfahrung kombiniert war (eine negative Handlung, die an uns vorgenommen wurde, zu einem erstaunlichen Kontrollerfolg führte), empfinden wir unter Umständen später Lust am Misshandeltwerden – eine masochistische Struktur entsteht. Werden wir durch Gewalt und Fremdbestimmung an der Entwicklung eigener Coping-Routinen gehindert, übertragen wir das möglicherweise auf unsere Mitmenschen. Und so lassen sich die Endorphine und Dopamine, die molekularen Botschafter des Wandels, auch in den Augen von Kindersoldaten sehen oder im Gesicht des Amokläufers, der, nachdem er zehn Klassenkameraden und fünf Lehrer »abgeknipst« hat, bereit ist, sich selbst zu richten.
Wie kann man solchen Fehlsteuerungen entgegenwirken? Menschen machen sich nicht erst seit heute Gedanken über diese Frage. All unsere kulturellen Errungenschaften, all die Mühen unserer »Übungssysteme« und Disziplinarmaßnahmen, dienen immer dem Zweck, Coping in die weniger katastrophalen und asozialen Bahnen zu lenken. Fernöstliche Philosophie lehrt uns, den »Erregungsapparat« zurückzunehmen, der mit bestimmten Glücks- und Lusterwartungen verbunden ist, und dadurch das ständige Leiden, die Frustration an der Realität zu vermindern. Das stark gewachsene Interesse an Yoga zeugt von der tiefen Sehnsucht, unsere endorphinprogrammierte Psyche in den Griff zu bekommen. Aber haben wir gegen diese molekularen Mächte überhaupt eine Chance? Immerhin wurden sie in Millionen Jahre dauernder Evolution als Mittel zum Überleben geformt. Ziehen Menschen nicht am Ende immer den Coping-Ersatz dem echten Wandel vor? Muss eine Wohlstandsgesellschaft nicht zwangsläufig den ganzen Möglichkeitsraum mit Ersatzbelohnungen überschwemmen? Zeigt das Beispiel der Bypässe nicht, dass wir den Tod in Kauf nehmen, statt uns zu wandeln?
Wandel durch Freude: die Glückstherapie
Dr. Dean Ornish, Gründer des Instituts für präventive Medizin in Sausalito, Kalifornien, begleitet seit vielen Jahren Koronarpatienten bei Verhaltenswandelprozessen. Seine Ergebnisse sind beeindruckend: Eine maßvoll vegetarische Ernährung mit rund 10 Prozent Fettanteil plus mäßiger Sport plus definitiv weniger Stress kann eine beginnende Herzkranzgefäßverengung praktisch umkehren. 6 Man kann den Bypass also verhindern.
Im Jahre 1993 führte Ornish seine erste kontrollierte Großstudie durch. 333 Patienten mit Herzkranzgefäßverengung wurden ausgewählt und in mehrere Gruppen aufgeteilt, die mit verschiedenen Methoden versuchten, ihr Verhalten zu verändern. Einige nahmen Kurse in Meditation und Yoga, andere legten den Schwerpunkt auf Aerobic oder Joggen, alle gaben das Rauchen auf. Und alle stellten ihre Ernährung um. Das Programm selbst dauerte nur ein Jahr. Nach
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