Das Buch des Wandels
hatten.
Abb. 7: »Endorphinisten« direkt nach dem Marathonlauf, fotografiert von Adrian Bischoff im Rahmen seines »Marathon Faces«-Projekts
Die Substanzen, die sich in diesen glückstrunkenen Gesichtern spiegeln, sind vor allem Endorphine, also jene Moleküle, die das Hirn ausschüttet, wenn der Mensch eine besonders anstrengende Leistung vollbracht hat. Endorphine sind sogenannte endogene Opiate, deren chemischer Aufbau Stoffen wie Kokain, Heroin oder Morphium ähnelt, nur dass sie vom Körper selbst hergestellt
werden . Sie haben eine körperliche Dimension – das Muskel- und Nervensystem entspannt und wird schmerzfrei -, wirken aber auch auf das Hirn ein, wo sie ein euphorisches Coping-Gefühl erzeugen.
Wir haben im zweiten Kapitel gesehen, wie fundamentale menschliche Verhaltensweisen von der Angstkaskade geprägt werden. Nun ist es Zeit, sich mit der anderen Seite dieses Mechanismus zu beschäftigen: der Belohnungskaskade. Dieser zweite Teil der Stress- und Angstreaktion soll uns dazu bringen, Routinen der Bewältigung zu etablieren und uns gewissermaßen auf Erfolg zu programmieren.
Immer, wenn wir etwas Besonderes geschafft haben – also Angst und Stress überwinden konnten -, schüttet unser Hirn einen hochwirksamen Belohnungscocktail aus, den wir als Gewinnereuphorie empfinden. Diese Kaskade hat einen komplexen Aufbau. Der Neurotransmitter Dopamin öffnet zunächst die Erregungsbahnen des Hirns. Dopamin macht wach und »freudig erregt«. Es kann zusammen mit den Angstmolekülen jenes Gefühl der Spannung herstellen, bei dem wir wie eine Feder gespannt sind. Dopamin ist ein »Wunsch-und-Begehr-Molekül«. Bei hyperaktiven und sehr leistungsbereiten, aber auch suchtaffinen Menschen ist es in besonders hoher Konzentration im Blut zu finden. Es motiviert uns, eine bestimmte Leistung zu erbringen, ein Vergnügen »abzurufen«, um danach belohnt zu werden – von den Endorphinen, den eigentlichen Euphoriemolekülen. Im Hintergrund wirkt Serotonin als »Bahnungsverstärker« im Gehirn. In sozialen Kontexten klingt die Kaskade dann mit den »Sozialhormonen« Oxytocin und Vasopressin aus, Substanzen, die uns entspannen und Geborgenheit vermitteln. Die Empfindungen von Sex, Liebe und »Heimat« sind mit diesen chemischen Substanzen verbunden.
Auf diese Weise bekamen die Jäger unserer Vergangenheit ihre Belohnung gleich in der doppelten Dosis: Dem Erfolgs-High nach dem Erlegen der Gazelle folgte das Sozial-High durch die Gemeinschaft beim Nachhausekommen. Nichts anderes geschieht auch heute.
Nehmen wir den Sport: Warum versuchen Menschen seit Jahrtausenden, immer neue Rekorde zu brechen? Hier wird der Jagderfolg auf der symbolischen Ebene nachgestellt. Die Endorphinbelohnung erhält man auch, wenn man allein über die Ziellinie läuft. Aber der Effekt wird natürlich durch eine jubelnde Menge tausendfach erhöht. Fast so schön ist es, den Kollegen oder Freunden am nächsten Tag davon zu erzählen. Darin spiegelt sich auch die menschliche Eigenschaft, Coping-Ereignisse als Statussymbole zu verwenden: Konkurrenz und Wetteifern treiben uns zu höheren Leistungen an, und auf diese Weise sorgt die Endorphinbelohnung für verbesserte evolutionäre Fitness. Die Belohnungskaskade funktioniert übrigens auch durch Delegation: Auf jedem Fußballplatz werden Unmengen von Dopaminen und Endorphinen ausgeschüttet, wenn die eigene Mannschaft gewinnt (und Stresshormone, wenn der Gegner triumphiert).
Modernes Entertainment – ein pathetisches Rock-Konzert, Michael Jackson, die religiöse Inszenierung von U2 – bildet eine Fusion von Akrobatik und Kunst. Für den Künstler, der sich kräftig verausgaben muss, um den Beifall einzufahren, bringt es die totale Überdosis an Coping (ein Grund, weshalb Popstars oft an Suchtproblemen leiden) . Aber auch das Publikum wird an der Endorphinausbeute beteiligt – eine rauschhafte Symbiose, die sich gegenseitig hochschaukelt. Jeder Hollywoodfilm arbeitet mit Coping-Mechanismen, die wir in diesem Fall auf einen Leinwandstellvertreter übertragen. Die Autoverfolgungsjagd, das in letzter Sekunde besiegte Monster, die erfolgreiche Eroberung des Sexualpartners – all das ist nichts anderes als ein »Melken« unserer Endorphinkaskade.
Auch die Berufe haben viel mit Coping zu tun. Ein Geschäft abschließen, einen Kunden gewinnen, Geld vermehren – ohne den Coping-Effekt würden wir dieses Spiel nicht mit derartiger Begeisterung und Ausdauer betreiben. Für berufliches Coping sind
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