Das Buch des Wandels
Jahren verbrachten wir ein Wochenende in den Alpen. K. war ungewöhnlich schweigsam, er fühlte sich den ganzen Freitag und Samstag müde und schlapp, sein Gesicht wirkte blass, was er auf eine verschleppte Grippe zurückführte. Am nächsten Morgen lag er auf der Intensivstation eines Krankenhauses, in einem Zustand, der dem Tod näher kam als dem Leben. Er hatte einen Schlaganfall erlitten.
K. hatte Glück – sein enormes Gedächtnis und seine motorischen Fähigkeiten kehrten nach einem Jahr intensiver Rehabilitation zurück. Allerdings ist er, wie alle Schlaganfallpatienten, »nicht mehr ganz der Alte«. Sein Wesen zeigt eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Störungen, Hektik, Unordnung. Er wirkt stiller und verwundbarer. »Das ist wie ein Kurzschluss in deinem Selbstwertgefühl«, sagt er und weiß in doppelter Hinsicht,
wovon er spricht – schließlich hat er viele Jahre lang Studien zum Thema erarbeitet.
Im Rückblick fiel uns etwas auf, was wir bis dahin kaum wahrgenommen hatten. K. war extrem »sesshaft«. Wenn wir zum Wandern in die Berge aufbrachen, blieb er immer bei einem guten (!) Wein in der Talhütte sitzen. Seine Körperhaltung beim Sitzen schien irgendwie – demonstrativ. Als hätte ihn etwas auf seinem Stuhl festgeleimt und ihm befohlen, von dort aus die Welt zu kommandieren.
K. aß zwar »gesunde« Sachen, aber zu viel davon. Er war nicht sehr groß, etwa 1,75, und hatte seit Jahren 20 Kilogramm Übergewicht. Bei der geringsten Bewegung kam er heftig außer Atem. Was kaum aufgefallen war, schon deshalb, weil er sich so wenig bewegte! Dass er unter Stress litt, hatten wir wegen seiner jovialen, eloquenten Art nicht bemerkt.
Wieso ist ein hochintelligenter Mensch nicht in der Lage, das Unglück zu verhindern, in das er selbst hineinstolpert, obwohl er andere professionell davon abzubringen versucht? (Und warum sind seine Freunde nicht in der Lage, so etwas rechtzeitig anzusprechen?) Die Antwort lautet: Programmierung. Etwas lässt uns an negativen Verhaltensweisen festhalten. Und es funktioniert auf mehreren Ebenen.
Gewohnheitsprogrammierung: Eine Verhaltensweise ist viele, viele Male wiederholt worden, so dass sie sich als Routine eingeschliffen hat. Nicht unpassend sprechen wir davon, dass etwas »in Fleisch und Blut« übergegangen sei.
Soziale Programmierung: Eine Handlungsweise wird durch ein soziales Umfeld belohnt, bestärkt, verlangt. Viele problematische Verhaltensweisen wie das Rauchen sind Resultat von »Folgeverhalten« – das heißt unseres typisch menschlichen Bedürfnisses, in sozialen Bezugsgruppen akzeptiert zu werden.
Kompensationsprogrammierung: Menschen sind in vielerlei Hinsicht Produkte ihrer Defizite. In jedem von uns steckt ein verletztes Kind, das beim Älterwerden eine robuste Form
von Beleidigtsein entwickelt. Wir wollen einen Ersatz, eine Belohnung, einen Ausgleich für eine erlittene Angst, einen unkontrollierbaren Stress, einen als schweren Mangel erlebten Zustand in unserer Vergangenheit. Kompensationen, die auf solchen Gefühlen fußen, werden von unserer Psyche auf eine ganz besondere Art und Weise als lustvoll codiert: Wir holen uns etwas zurück, worauf wir ein Recht haben! Auf diese »Lizenz zur Verwöhnung« lassen sich wahrscheinlich die stärksten und fatalsten negativen Verhaltensprogrammierungen zurückführen.
K.s Angewohnheit, »sitzen zu bleiben«, war, wie sich später in einem Gespräch herausstellte, Folge einer autoritären Angewohnheit seines Vaters. Der war das Prachtexemplar eines von der NS-Zeit geprägten Nachkriegspatriarchen. Eine seiner Spezialitäten bestand darin, K. mit körperlicher Ertüchtigung zu bestrafen. So musste er nach einem beliebigen Fehlverhalten dreimal um den Häuserblock rennen. Sein Vater nahm die Zeit mit der Stoppuhr. Anschließend gab es einen Tag lang kein Essen.
Ob K.s Hang zu komplizierten Scheidungen (er lebte in der dritten Ehe) etwas mit seiner außerordentlich schwachen Mutter zu tun hatte, fragten wir ihn allerdings nicht. Manche Dinge sind so kompliziert, dass sie schon wieder einfach sind.
Die Coping-Kaskade
Schauen Sie sich die folgenden Bilder an. Was sehen Sie? Na klar: Menschen im Drogenrausch! Allerdings auf körpereigenen Drogen. Der Fotograf Adrian Bischoff hat in seiner Serie »Marathon Faces« ganz normale Menschen fotografiert (ist man normal, wenn man einen Marathon läuft? – schwierige Frage), kurz nachdem sie die Ziellinie eines 42,195 Kilometer-Laufes überquert
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