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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Gefährlich-mit-den-Armen-Fuchteln. Seine Plattentitel – »Thriller«, »Bad«, »Dangerous« – kokettieren mit der Gefahr, dem Verderbten, dem Dunkel-Erotischen, aber in den Texten geht es eher um die üblichen Liebessehnsüchte (mit aufbrausenden Einsprengseln der Empörung).
    Während der Rock der siebziger Jahre klar und laut das spontanautonome, sexuell fordernde und begehrende Rebellionselement verklärte (Testosteron plus Dopamin, also eine geballte Mischung aus zweiter und dritter Phase), etablierte das Jackson-Popuniversum eine seltsame Geisterbahnwelt, in der alle mit grinsenden Kuschelmasken herumlaufen.
    An Michael Jackson kann man studieren, wie wenig mitunter der äußere Erfolg, sprich Reichtum und Ruhm, mit innerem Wachstum, also der Entwicklung von stabiler Selfness, verbunden ist. Sein Schicksal symbolisiert die regressive Verkrampftheit, die nicht nur Individuen, sondern ganze Kulturen epidemisch
befallen kann. Eine solche Spaltung führt fast immer zu Missbrauchsphänomenen, die Spannung muss auf irgendeine Weise an Schwächere weitergegeben werden. Das künstliche Dopamin-Universum, in das er sich schließlich flüchtete, erinnert an die ständige Überdosis von Kalorien, Tröstungen, Kompensationen in der alltäglichen Konsumwelt. Die vergeblichen Versuche, das Äußere zu ändern, zeigen, wie sehr ihm innere Selbstwerte fehlten. Erklärbar ist das alles schon durch Jacksons Kindheit – sein Vater schlug ihn, die Familie war voller Konflikte und Nöte. Und aus diesem Verständnis rühren die tiefen Emotionen, die viele bei seinem Tod empfanden.

Die evolutionäre Funktion der Liebe
    Liebe, wie wir sie heute kennen, ist eine Erfindung des 17. Jahrhunderts, als die Idee einer »Schicksalsmacht des Gefühls« entstand. Bis ins frühe bürgerliche Zeitalter blieben die Bereiche des Gefühls, der Fortpflanzung und der Beziehung weitgehend voneinander getrennt. Man heiratete aus genetischen Gründen, pflegte diplomatische Beziehungen zum »Gatten« und liebte, wenn überhaupt, dann Jesus oder heimlich. Gefühle wurden auf Bühnen inszeniert; sie waren die Folie, auf der die Gesellschaft als Gegenentwurf ihre innere Ordnung behauptete.
    Heute ist die romantische Liebe eine kulturelle Norm. Darunter, so kann man es lapidar formulieren, machen wir »es« nicht mehr (oder wenn, dann geben wir es ungern zu). Die romantische Liebe ist eine allgegenwärtige Inszenierung, aber gleichzeitig eine ständige Überforderung. Denn nur ganz selten gelingt es, alle drei existentiellen Ebenen des Lebens – Leidenschaft, Beziehung und Fortpflanzung – in einer Person, einer Beziehung zur Übereinstimmung zu bringen. Und das auch noch lebenslang!
    Die endlose Menge der Männer-Frauen-Witze, mit denen Kabarettisten ganze Sportstadien füllen, die Inflation der Ratgeber,
in denen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen wie eine Art Kochrezept behandelt werden, weisen auf unsere Verstricktheiten hin. Die Idee, dass »Männer sich eigentlich nicht mit Frauen verstehen«, ist eine wunderbare Schutzbehauptung und gibt uns einen Grund für das Scheitern, das wir alltäglich am Liebesideal erleiden. Man kann es immer auf den »kleinen Unterschied« schieben, wenn man es nicht schafft, eine reife Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen einzugehen.
    Eine wahrhaft moderne Liebeskultur müsste Liebe als das sehen lernen, was sie systemisch ist: eine selbstreferenzielle Schleife. Die psychologischen Untersuchungen zum Thema kommen immer wieder zu denselben erstaunlichen Schlüssen: Es kommt gar nicht so sehr darauf an, wen wir lieben (deshalb sind die komplizierten Auswahl- und Matchingverfahren der Internet-Partneragenturen auch nur begrenzt wirksam). Liebe entsteht in gegenseitiger Selbstverstärkung von Begehren und Akzeptanz. Menschen lieben, weil sie geliebt werden, und begehren, weil sie begehrt werden. 6 »Es funkt, weil es funkt« – diese Erfahrung machen wir immer wieder, wenn Menschen, die »eigentlich zueinander passen«, nichts füreinander empfinden können – und umgekehrt.
    Wenn wir klug und vorsichtig damit umgehen, wird ein gegenseitiger Selfness-Prozess daraus. Denn Liebe heißt, dass wir uns in der Spiegelung durch den anderen selbst entwickeln. Allerdings funktioniert die Liebesschleife nur, wenn wir uns von den Romantikklischees verabschieden. Liebe bedeutet nicht die Herstellung von Nähe, Verschmelzen, Geborgenheit, sondern das genaue Gegenteil: das tiefe Akzeptieren der Differenz. Wahrhaft

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