Das Buch des Wandels
schnippen, geht es uns »kleinen Leuten« schlecht.
Diese mentalen Zauberformeln sind eine verlässliche Barriere gegen den Wandel und seine Zumutungen. Als »kleiner Mann«, der nichts kann und den die anderen daran hindern, groß zu werden, kann man niemals mündig werden, man muss es ja nun auch nicht mehr. Erlernte Unmündigkeit hat Folgewirkungen, die sich selbst verstärken: Irgendwann muss man sich für das sinnlose Trösten trösten und über das Jammern jammern und so fort. Dann beginnen die Unmündigkeitszirkel sich zu perfektionieren.
Dicksein zum Beispiel bietet eine dreifache Komfortzone: Man kann viele Kalorien zu sich nehmen (Tröstung, Entspannung), muss nicht lieben und geliebt werden (das erfordert einen hohen Aufwand) und kann obendrein klagen (was durchaus soziale Zuwendung zu erzeugen vermag).
Sieht man sich als Sozialopfer, lädt man die eigene Unwilligkeit, sich im Leben weiterzubewegen, ausschließlich auf die Schultern des »großen Ganzen«, der Gesellschaft, oder noch einfacher: des Staates. Und lässt sich vielleicht noch dafür applaudieren.
Neben diesen klassischen Strategien zur Vermeidung persönlichen Wachstums gibt es noch die Selbsterschöpfungsstrategie: Man rackert und ackert an unrealistisch hoch gesetzten Zielen, an denen man nur scheitern kann. Die Folge ist irgendwann die gesundheitliche Katharsis, die nicht selten geradewegs in einen langen Siechtumsprozess übergeht. Der berühmte Herzinfarkt beziehungsweise Schlaganfall beendet den aussichtslosen Kampf. Besonders ehrgeizige Männer sind Meister dieser Strategie.
Der Prozess der Selfness beginnt am Ende immer beim »Kelleraufräumen«. Petterson, die von mir geliebte Kinderbuchfigur, findet im Keller die Micklas. Kleine, anarchische Wuselbewohner
eines geheimen schlumpfigen Kosmos, über die Sigmund Freud bestimmt wohlwollend seinen Spitzbart geschwenkt hätte. »Kelleraufräumen« bedeutet, dass wir uns ernsthaft mit den Verletzungen der Vergangenheit konfrontieren. Dass wir sie noch einmal gewissenhaft inspizieren – und dann loslassen. Auch der alte Petersson konnte manche seiner Probleme nur lösen, indem er ins Land der Micklas hinabstieg und sich mit den kleinen Monstern unterhielt. Danach verstand er besser, warum er dort unten im Grunde nichts zu suchen hatte – und konnte sich wieder ungestört mit Kater Findus seinen komplizierten Basteleien hingeben.
Das Weisheitsprinzip
»Denn Weisheit ist letztlich nichts anderes als das Maß unseres Geistes, wodurch dieser im Gleichgewicht gehalten wird, damit er weder ins Übermaß ausschweife, noch in die Unzulänglichkeit falle.« So Augustinus in seiner Schrift »Über das Glück« 7 . Diese Definition von Weisheit verrät uns zunächst, was Weisheit nicht ist: Übermaß und Übertreibung. »Meden agan«, »Nichts im Übermaß«, so hieß das zweite Motto des Orakels von Delphi (das erste lautet »Gnothi seauton«, »Erkenne dich selbst«). Aber gibt es auch eine Definition, die uns diesen so altmodischen Begriff für die moderne Welt neu erschließen kann?
Unser Hirn ist eine Weltmaschine, in der – wie uns die Maya und World of Warcraft zeigen – gewaltige Simulationen stattfinden können. Dieses rund 1,3 Kilo schwere, aus 100 Milliarden Neuronen bestehende Gebilde verfügt über sehr differenzierte virtuelle Speichersysteme. Wäre es nicht pure Verschwendung, wenn wir sie zeitlebens nur als eine Art Reflexzone für Genuss, Sex und Essen nutzten?
Weisheit ist jener Zustand, in dem unser Hirn das zeigt, was es wirklich kann. Der Turbomodus, wobei es hier allerdings
nicht um Tempo, sondern um Vernetzung geht. Weisheit ist eine Art »Superposition des Geistes«. Weisheit ermöglicht ein holographisches Sehen: Im Einzelnen ist das Ganze enthalten! Der Baum ist so wichtig wie der Wald! Aristoteles’ Definition lautet wie folgt:
Weisheit bedeutet, die Ausnahme zu jeder Regel zu erkennen.
Weisheit heißt, zu wissen, wie man improvisiert.
Weisheit ist nicht vererbt, sondern wird erworben. 8
Dilip Jeste und Thomas Meeks von der University of California haben in einer Pionierstudie das Phänomen der Weisheit zum ersten Mal neurobiologisch erforscht. Sie schlossen, um es grob zu vereinfachen, weise Hirne an Elektroenzephalografen an und maßen die Hirnströme. Ihr Ziel war es, auf neurobiologischer Ebene nachzuweisen, dass die verschiedenen Hirnareale im Zustand der Weisheit auf besondere Weise verschaltet sind. Dabei gingen sie von folgender Definition der
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