Das Buch des Wandels
die Integrationskraft unseres Ich weiter wächst, verwandeln wir unsere sozialen Rollen in Instanzen. Wir werden Eltern, Vorgesetzte, Nachbarn, Kollegen, Meister eines bestimmten Fachs. Wir ernten gesellschaftlichen Respekt und erlangen einen Status, der uns befähigt, unsere Selbstwirksamkeit auf größere Menschengruppen auszudehnen. Autorität bedeutet, anderen Menschen bei deren Vorankommen zu helfen. In dieser Phase entwickeln wir »Generativität« – unsere Stellung in der Generationsabfolge (oder in Berufs- und Passionsnetzwerken) beginnt, unsere Gefühle und Handlungen zu dominieren. Auf
diese Weise können wir dem Älterwerden einen stabilen Sinn verleihen – und die Angst davor moderieren. 5
Weisheit: In der alten Biographie endet der mögliche Aufstieg zum Selbst spätestens in der Autoritätsphase. Wer stirbt, wird folglich auch in seiner sozialen Rolle zu Grabe getragen – die Todesanzeigen geben lapidare Auskunft darüber: »Ein großer Kollege / Vater / Onkel ist von uns gegangen« – »Für unsere liebe Mutter, in ewiger Dankbarkeit«.
Wahre Selfness entwickeln wir jedoch erst durch Weisheit. In der Phase der Weisheit wachsen wir auch über unsere Statusdefinitionen hinaus. Nun geht es um unsere Urteile, unsere Sichtweisen, unser Erfahrungswissen. Wenn wir Weisheit entwickeln, schaffen wir es, die Grenzen unseres Ego-Gefängnisses endgültig zu überwinden.
Die radikalste Herausforderung unseres Lebens besteht wahrscheinlich im Umgang mit dem eigenen Alterungsprozess. Die Konfrontation mit dem Zerfall des Körpers ist die größte Kränkung, die wir als Individuen erfahren können. Echte Weisheit transformiert diese Kränkung in Gelassenheit – vielleicht die höchste mentale Übung, deren ein Mensch fähig ist. Am Ende können wir verstehen, was unsere Rolle im gigantischen Spiel des Lebens und der Evolution ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Abb. 12: Die Lebensspirale
Was ich hier beschrieben habe, ist kein statisches Modell, keine automatische Rolltreppe. Jederzeit können die Übergänge zwischen den Phasen scheitern. Nie geht der Weg geradeaus. Manchmal werden wir in die Wiederholung geschickt wie Skilangläufer in ihre Strafrunden. Die Aufgaben, an denen wir wachsen, können an den unmöglichsten Stellen auftauchen – dort, wo wir sie garantiert nicht vermuten. Aber schummeln gilt nicht, Umwege sind nicht zugelassen. Wer in der Kindheit keine Symbiose erleben konnte, wird spätestens beim Übergang in die Beziehungsphase auf diesen wunden Punkt zurückgestoßen. Wer nicht um seine Autonomie kämpfte, kann keine Rolle des Respekts erfüllen. Wer keine erwachsene Bindung und Liebe ausformt, wird Weisheit allenfalls simulieren können. Jedes Mal, wenn wir eine Stufe erreichen, beginnt wieder eine Krise, die zu einer nächsten führt. Persönlicher Wandel ist die Kunst, Abschiede zu vollziehen. Und sehr wahrscheinlich sinken wir mehrmals wieder hinab in frühere Phasen.
Das Regressionsprinzip
Als am 26. Juni 2009 Michael Jackson an einer Überdosis Medikamente starb, wurden die Datennetze tagelang von einer Welle von Trauer- und Verwirrungsgefühlen überschwemmt. Jackson war vielleicht das letzte große Popidol, Ikone einer Übergangszeit der Globalisierung, in der der Planet zu einem elektronischen Popuniversum zusammenwuchs. Bis in die Slums dieser Welt
kannte man seine kieksigen Lieder und konnte dazu »moonwalken«. Seine Shows in den achtziger und neunziger Jahren waren vielleicht die letzten großen Hochämter der Popkatharsis, in der scharenweise Menschen ohnmächtig zusammenbrachen.
Michael Jacksons Leben ist ein typisches Beispiel für ein Scheitern an den Reifungsübergängen. Sein Kindheitstick sprach Bände: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere baute er sich die Ranch »Neverland« (der Aufenthaltsort von Peter Pan, dem Ewigkind), einen pompösen privaten Vergnügungspark, in den er, wenn er gerade Lust dazu verspürte, »die Kinder der Welt« einlud. Er lud sie im Alter von 45 auch in sein Bett ein, um mit ihnen zu »kuscheln«. Was ihm quälende Prozesse wegen des Vorwurfs des Missbrauchs einbrachte. »Ich sage nicht, dass ich Jesus bin!«, formulierte er auf einer Pressekonferenz 1992, »ich imitiere ihn. Auch Jesus hatte ein besonderes Verhältnis zu Kindern!«
Michael Jacksons Musik transportiert die paradoxen Signale seiner Biographie. Seine falsettartige, piepsig-kindliche Stimme kontrastierte mit seinem unentwegten An-den-Schritt-Greifen und
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