Das Buch des Wandels
wir sie heute massenhaft in den Universitätsstädten finden. Sie waren durchdrungen von einem rebelli schen
und gleichzeitig bedürftigen Geist. Wir wollten nicht nur uns, sondern auch die Welt auf den Kopf stellen. Wir gründeten ein soziales Laboratorium, in dem wir uns ein wenig wie jene jungen Ratten verhielten, die die Verhaltensforscher so gerne erforschen.
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, findet sich in meinen Gedächtnisspeichern ein seltsames Archiv aus zuckersüßer Nostalgie und Bitterkeit. Da ist der süß-modrige Geruch im Hauseingang der diversen Achtzimmer-Altbauwohnungen in den Studentenvierteln von Berlin, Hamburg, Frankfurt, vollgestellt mit ineinander verhakten Hollandfahrrädern und Kinderwagen. Der Duft von Sandelholz-Räucherstäbchen und der Sound von Popkonzerten. Der Geschmack etwas billigen Rotweins und selbstgedrehter Zigaretten. Das Gefühl von Entspannung, wenn wir auf der riesigen Matratzenlandschaft vor dem Fernseher lagen und ein Spiel der Weltmeisterschaft (Paul Breitner!) sahen. Meine Geschmacksnerven sind wahrscheinlich für alle Ewigkeit auf den Geschmack von Spaghetti Bolognese mit einer Überdosis Knoblauch konditioniert.
Dazu Ulrikes unglaubliches Lachen. Sarahs sanfte, braunäugige Art. Ulis bescheuerte Weise, »Du Reaktionär!« zu sagen.
Giovannis, unseres italienischen Mitbewohners (ein Arbeiter!), dröhnender Bass, wenn er durch den Gemeinschaftsraum mit dem großen Küchentisch rief: »Beruhige dich!« und »Duuuu denken zu viel!«
In der Tat dachten wir ein bisschen zu viel; über alles zwischen Sex und Popmusik und Dritte Welt. Und waren reichlich aufgeregt. Und damit beschäftigt, krampfhaft jeden Anschein von »Angepasstheit« zu vermeiden. »Nee, ich will nicht werden, wie mein Alter ist!«, sang die Rockband der romantischen Rebellion, Ton, Steine, Scherben. Wir mochten, ja liebten uns wirklich (ich habe bis heute tiefe Bindungen an manche meiner damaligen Mitbewohner, auch wenn wir uns räumlich aus den Augen verloren haben). Aber irgendwie waren wir unentwegt voneinander bitter enttäuscht. Immer kam es zu Streit, Schreiereien, Diskussionen
vom Typ end- und gnadenlos. Am Ende hatten viele von uns wohl nicht das Gefühl, eine gute Zeit durchlebt zu haben. Sondern etwas vergeudet zu haben.
Die Tragödie des Gemeinschaftsraumes
Das Problem begann immer im Gemeinschaftsraum. Dort, im Zentrum des Gruppenlebens, verbreitete sich das Verwahrlosungschaos wie eine schwelende Glut. Es wuchs und wucherte, und alle Putzregeln und Abwaschpläne, Einkaufskassenlisten und »revolutionären Haushaltsregeln« halfen nicht. Nach ein paar Tagen stapelte sich der Abwasch in der Küche. Niemand reinigte das Katzenklo. Die Katzen fingen an, aufs Sofa zu pissen. Geld verschwand aus der Haushaltskasse. Einer sagte immer: »Ich fühle mich ausgebeutet …« »Du hast wieder nicht …« »Du bist heute dran mit …« Endlose Debatten folgten, mit blödsinnigen politischen Formeln aufgeladen. Schmutzuntoleranz ist reaktionär!
Ich kann mich noch an den Abend erinnern, als Sarah, die schöne Sarah, alle Teller fallen ließ. Ein riesiger Polterabend-Protest. Sie schrie und tobte, was für unsolidarische Schweine wir seien, die immer nur den ganzen politischen Schwachsinn im Kopf hätten, anstatt sich ernsthaft um andere und ihre Gefühle zu kümmern. Dann weinte sie hemmungslos einige Stunden lang. Wir ahnten, dass »mehr dahintersteckte«. Beziehungsprobleme. Psychozeug.
Das Grundgefühl der WG-Zeit war reziproke Enttäuschung. Alle hatten ständig das nagende Gefühl, mehr zu geben als zu bekommen. Sich unheimlich zu bemühen und gleichzeitig immer über den Küchentisch gezogen zu werden. Es war, als ob wir uns ständig gegenseitig testeten, wie weit der andere bereit war, uns auch dann noch toll zu finden, wenn wir uns danebenbenahmen. Sartres »Die Hölle, das sind die anderen« inszenierten wir life . Oder das, was die Sozialforscher später »Terror in unstrukturierten Gruppen« nennen sollten.
In der sozialen Spiel- und Systemtheorie nennt sich dieses Syndrom »Tragedy of the Commons« – die Tragödie des Allgemeinguts oder der Allmende. 1 Im 15. Jahrhundert begannen die Dörfer und Kommunen Europas, ein größeres Stück Land auf Gemeindegebiet als kommunalen Bereich auszuweisen. Auf diesem Land durften die Schäfer und Tierhalter der Umgebung kostenlos ihre Schafe und Rinder grasen lassen – zum Wohle aller. Doch es erwies sich, dass praktisch immer eine
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