Das Buch Gabriel: Roman
kann nur Schweigen folgen. Aber diesem Schweigen entwachsen Ranken, die Fremde aneinanderbinden, anfangs höchstens rauchähnlich und vermutlich kaum fester als eine Spinnwebe, als die Gesprächspause beendet ist. Aber ich frage mich, wie lange es wohl – wäre ich nicht auf dem Weg zu sterben – dauern würde, bis dieses Mädchen einen Efeu der Zuneigung wachsen lassen würde, dessen blättrige Ranken sich vom Gesims herunterkringeln. Vielleicht gar nicht so lange.
»Ich muss zugeben, ich hätte nicht erwartet, dass du dich so öffnest«, sage ich.
Darüber denkt sie einen Moment lang nickend nach. »Es ist wirklich komisch, dass du ohne ersichtlichen Grund hier auftauchst und sich in der Folge alles zum Schlechteren wendet. Ich will einfach nicht, dass Gerd etwas passiert, er hat genug am Hals, auch ohne deine geheimnisvollen Pläne.«
»Ganz ehrlich, es tut mir leid, was passiert ist. Und als ich ankam, hatte ich keine Ahnung, wie die Sache zwischen Gerd und meinem Vater ausgegangen war.«
»Pff – bevor du das alles wie einen zarten, unschuldigen Fehler aussehen lässt, unterbreche ich dich lieber mal.« Mit finsterem Gesicht wendet sie sich ab. »Was Gerd nicht merkt, ich aber schon, ist, dass du hier nach Selbstzerstörung suchst. Und Selbstzerstörung kenne ich gut. Auch Berlin kennt sie gut. Du kommst aus England und findest uns wahrscheinlich alle mausig und kleinkariert, du meinst, wir hätten noch nie schnellere Zeiten erlebt und wären noch nie mit Dekadenz in Berührung gekommen. Das stimmt aber nicht. Was Egoisten wie du nämlich nie auf dem Schirm haben, ist, dass Selbstzerstörung eine Mannschaftssportart ist, die alle anderen mit hineinzieht, als Gelackmeierte, als Zeugen, als Opfer und als Trauernde. Vielleicht findet man bei euch Totalitarismus als Zukunftsperspektive noch schick – aber wir hatten das schon, und deinen Geruch, der uns daran erinnert, wie damals alles losging, können wir echt nicht brauchen. Wir wollen nicht die Zeugen von deinem Chaos sein, das sollen andere machen. Es ist nicht unser Problem, dass du nicht gelernt hast zu leben.«
»Whoosh.« Mein Blick fällt zu Boden. »Ganz schön hart.«
»Das Leben ist auch kein Zuckerschlecken.«
»Hm – ich schätze, ich sollte deine Offenheit als Kompliment nehmen.«
»Du solltest begreifen, dass ich dir einen Gefallen tue, indem ich so schonend mit dir umspringe. Wenn du kein Künstler wärst, wie Gerd zu glauben scheint, würde ich noch viel deutlicher werden.«
Hören Sie sich das an, mein Freund, treten Sie ruhig näher – ich, der ich hier am Rand des Todes wandle und dem jeder Schritt Schmerzen bereitet, muss mir doch tatsächlich ein Lächeln verkneifen angesichts dieser harten Nuss neben mir. Gott allein weiß, warum – nach einer Tracht Prügel wie dieser. Ihr Rasiermesser schneidet so scharf, dass ich mir die Lippen zusammentackern muss, um nicht ihrer schieren Energie wegen an Ort und Stelle loszukichern.
Sie sieht es, und ihre Miene verdüstert sich noch mehr. »Pff, was soll das?«
»Hm.« Ich drehe mich weg. »Eigentlich magst du mich schon ein bisschen, oder?« Die Worte bleiben kurz in der Luft hängen und beobachten uns; als ich dann hoch schaue, sehe ich, wie sie mit sich kämpft, wie sie in derselben Situation steckt wie ein Kind, das gegen seinen Willen aus dem Schmollwinkel herausgelockt wird und das Gesicht verzieht.
»Jetzt weich nicht aus. Du hast selbst zugegeben, keine sympathischen Eigenschaften zu haben.«
»Aber findest du das auch? Warum solltest du dich sonst so ins Zeug legen?«
»Weil du wie alle erfolgreichen Zerstörer genug Courage und Verstand hast, um eine auf deinen Erfahrungen basierende Ethik zu formulieren – und diese Erfahrungen beinhalten eindeutig Verrat und Schmerz. Aber du hast die falsche Ethik formuliert. Niemand kann sie mögen oder respektieren. Und ich will dir ja nur sagen: Möglicherweise hat die Dekadenz in deiner Stadt Einzug gehalten, weil sie mal die großartigste aller Städte war und das plötzlich nicht mehr ist – aber wenn du dich zerstören willst, bist du falsch hier. Entweder du hast was beizutragen, oder du nimmst den nächsten Easyjet-Flug nach Hause und gehst mit deinen Kumpels kotzen.«
»Whoosh«, sage ich. »Heftig. Easyjet? Klingt, als hätte ich davon schon eher hören sollen. Als hätte ich so was schon ganz zu Anfang gebraucht.«
Sie dreht sich so, dass sie mir direkt ins Gesicht fauchen kann, wobei sie ihre scharfen, kleinen Zähne
Weitere Kostenlose Bücher