Das Buch Gabriel: Roman
nichts davon lässt sich rückgängig machen. Das ist mein letzter Morgen. Da kein Meer in der Nähe ist, beschließe ich von meinem Bett im Adlon Kempinski aus, in einen See zu gehen und mich zu ertränken. Ich liege da und überlege, ob ich das bei Tageslicht oder Dunkelheit machen soll. Dann klingelt das Telefon, und ich fahre zusammen:
»Gabriel – bist du schon wach?« Es ist Thomas.
»Augenscheinlich ja.« Ich kann hören, dass um ihn herum Trubel herrscht.
»Kennst du das KaDeWe? Wir sind oben in der Austern-Bar.«
»Ich dachte, unser Geschäft sei abgeschlossen.« Der Satz lässt sich nicht anders als frostig aussprechen. Der Schmerz geplatzter Träume ist noch frisch.
»Jetzt sei doch nicht so«, sagt Thomas. »Falls du dich dann besser fühlst – Didier und ich werden auch nicht mittafeln. Das ist wirklich eine vollständig geschlossene Veranstaltung, niemand will da irgendwelche unbedeutenden Caterer um sich haben. Aber wir wollen dir einen kleinen Vorschlag machen, also komm doch.«
Nach einer Dusche nehme ich ein Taxi nach Westberlin, fläze auf dem Rücksitz und versuche, mir mein Versagen als Limbonaut zusammenzusetzen. Im Verlauf der Beschaffung eines Veranstaltungsortes für Smuts war ich maßgeblich beteiligt am Scheitern einer Ehe, am Kollaps eines kleinen Betriebs und an meinem eigenen Ausschluss von der Party. Immerhin: Das war’s auch schon. Vielleicht kann ich Thomas’ kleinen Vorschlag als Druckmittel für Smuts einsetzen, bevor ich abtrete. Darüber hinaus will ich noch einen letzten Blick auf die Mutter aller Flughäfen und meine seltsamen Freunde dort werfen. Dann mache ich mich vom Acker.
Der Blick durchs Fenster lenkt mich etwas von meinem Schmerz ab, denn als wir den Kurfürstendamm hochfahren, scheinen wir in eine andere Stadt zu kommen, eine Metropole mit eleganten Schaufenstern und prächtigen alten Häusern hinter Café-Markisen und Bäumen. In Städten, sinniere ich, scheinen die Bäume den Wohlhabenden den Vorzug vor den Armen zu geben. Noch ein Beweis, dass Gott die Armen nicht mag.
In der üppigen Feinschmeckeretage des KaDeWe sitzt Didier mit krummem Rücken an der Austern-Bar, vertieft in ein Gespräch mit Thomas, wild gestikulierend.
Als ich näher komme, deutet Thomas auf einen freien Hocker. »Wir sind bei westirischen Austern.« Postwendend folgt Champagner, aber mein Körper muss sich in der Nacht aus Widerstand gegen seinen Besitzer umformatiert haben, denn der erste Schluck brennt wie Batteriesäure.
»Ganz schön beeindruckend hier, oder?« Didier nickt mir einen Gruß zu. »Für mich das unglaublichste Kaufhaus Europas. Mehr Restaurantplätze als jedes andere Etablissement in Deutschland, und nirgendwo gehen mehr Austern über die Theke. Das Einzige, was mir zu meinem Glück jetzt noch fehlt, ist eine Flasche Elgood’s Black Dog. Ein Bier aus deiner Heimat – und unter Connaisseuren ein kleines Geheimnis.« Als die nächsten Austern kommen, wendet er sich wieder an Thomas, der mir erklärt:
»Didier hat mich gerade an Pike erinnert, und ich kenne das Ende der Geschichte noch nicht.«
»Ah«, sagt der Baske, »das Ende muss er dir selbst erzählen.« Und zu mir: »Dank dir übrigens für die Flasche – deswegen sind wir überhaupt erst auf Pike gekommen.« Didier hält sich eine Auster vor den Mund und kippt sie mit der Feierlichkeit einer Seebestattung hinein. »Aber ich schätze mal, der Rest der Geschichte hat sich sowieso herumgesprochen. Allein die Idee hat mich seitdem immer belebt: Pike, in Europa auf dem Höhepunkt seiner Macht. Liiert mit diesem Mädchen, das Model ist. Dann stellt sich heraus, sie hat eine Schwester, die sogar noch schöner ist. Weswegen er mit der auch was anfängt. Und dann kommt der Zeitpunkt, an dem er mit einer von beiden nach Monte Carlo fahren muss …«
»Ist er nicht in einem Ghibli Spyder gefahren?«, fragt Thomas.
»Ja. Ich glaube sogar, ich weiß, wo der Wagen heute steht. Ist mittlerweile ein Vermögen wert. Aber egal, die eine Schwester ist schon in Monaco, sie wollen nachfahren und sie dort treffen. Natürlich will Pike in der Nacht beide haben. Und so kommt der Moment, in dem er sich auf einer kurvenreichen Straße befindet, neben sich ein Model in einem Sportwagen, unterwegs, um ein noch schöneres Model zu treffen. Das Meer ist blau, der Himmel spannt sich über ihnen, die Luft ist heiß, und er kann das Mädchen riechen, das Leder und das Meer. Ekstase ist garantiert. Und genau in diesem Moment denkt er:
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