Das Buch Gabriel: Roman
ein Club für diejenigen, die welche haben, die den Waren fest verbunden sind. Ich bin ein Ketzer, eine entartete Zelle, und wie alle Organismen in der Gegenwart von Abweichlern rotten sie sich zusammen, um mir den Weg zu versperren und mich abzuwehren. Meine Freiheitsberaubung ist total, es ist eine Szene aus Orwells entsetzlichstem Alptraum: Ratten wuseln wie betäubt durch die Gegend, mit Produkten, die noch nicht mal zusammengebaut sind.
Der Schwede hat das Immunsystem von Menschenmengen berechnet!
In Todesangst und mitten durch ein Flakfeuer aufgebrachter Rufe und Ellbogenchecks durchbreche ich schließlich eine nicht ganz so dicht gefügte Schlange und springe über den Einkaufswagen einer älteren Dame hinweg in die Freiheit.
Irgendwann findet Anna mich mit zuckenden Gliedmaßen neben einem Hot-Dog-Wagen auf dem Parkplatz wieder. »Lass mich raten.« Sie stellt ihre Kisten ab. »Ein Mann, der nicht gerne shoppen geht.«
»Das ist Freiheitsberaubung, ferngesteuerte Sodomie.«
»Pff.« Sie wirft einen Blick gen Himmel. »Ohne Ikea würde ganz Berlin auf dem Boden schlafen. Ikea passt hier total gut hin – schlicht, günstig und cool. Der Laden des Volkes.«
»Das Volk steht also auf Massenvergewaltigung?«
»Was soll das denn? Hat dir jemand eine Knarre an den Kopf gehalten? Das ist ein Geschäft! Man kauft ein und geht wieder. Und wer nicht will, geht halt nicht hin.« Sie schickt ihren Worten einen stieren Blick hinterher und sieht sich dann halbherzig um, als würde sie schauen, ob jemand anderes sie nach Hause begleiten könnte.
»Du findest mich nicht besonders sympathisch, oder?« Ich zünde mir eine Zigarette an.
»Hast du denn irgendwelche sympathischen Eigenschaften?«
»Ich glaube schon.«
»Und zwar?«
»Na ja.« Ich nehme einen tiefen Zug und stoße eine Rauchtrompete aus.
Sie wartet, bis mein Schweigen Antwort genug ist. Beim Hochschauen sehe ich ihre kleinen, scharfen Zähne auf mich herablächeln, Haarsträhnen hängen ihr über die Stirn.
»Hm«, sage ich, »dann sind wir uns wohl in einer Sache einig.«
»Ha, ha, genau. Du bist furchtbar – und komplett egozentrisch.«
Das ist so atemberaubend unverschämt, dass ich lachen muss.
»Und du bist voreingenommen und grob. Ein trübseliges deutsches Mädchen.«
»Dankeschön.« Sie macht einen verächtlichen Knicks.
Wir müssen wieder lachen, ein Lachen, das vor Erleichterung über eine ausgesprochene Wahrheit glockenhell klingelt, und ich denke daran, wie wenig Wahrheit mein bisheriges Leben geziert hat, und frage mich, woher Anna die Stirn hat, es just jetzt damit zu zieren. Vielleicht ist sie der erste Akt des vor meinem inneren Auge rückwärts ablaufenden Lebens, die Wegbereiterin fürs Bekenntnis meiner Sünden und für die Begegnung mit meinem Schöpfer. Es würde durchaus zu den Enthusiasmen passen, mir erst jemanden wie sie zu schicken und mich dann mit dem Geist der zukünftigen Weihnacht zum Horror-Shopping zu schicken, damit ich mit eigenen Augen sehe, wie sich die Welt der Menschen in einen Irrgarten wuselnder Ratten verwandelt. Der Tod ist also nahe, und als ich aufblicke, merke ich, dass Anna mich mustert, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Wahrheiten auch ankommen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen derart offenen Austausch mit einem fremden Menschen gehabt zu haben. Es fühlt sich an wie eine Ohrfeige.
»Du bist ja völlig hinüber«, sagt sie schließlich. »Brauchst du ein paar Pommes mit Mayo?«
»Gern, aber nur, wenn deine Meinung über mich dann nicht noch schlechter wird.«
»Ha, ha.« Sie geht auf den Wagen zu. »Wie soll das denn gehen.«
Für einen Euro bekommt man ein kleines Tablett voller Pommes Frites. Wahrscheinlich hat eine Wohltätigkeitsorganisation den Wagen im Rahmen eines Opferhilfeprogramms geschickt. Duft steigt von den Fritten in mein Gesicht, süß schmerzen die Kanäle und Drüsen meines Körpers, als sie mir die Kehle hinuntergleiten. Beim Essen sehe ich dem Strom von Geiseln zu, die mit ihren Lasten aus dem Warenhaus quellen, während Vögel ganz in der Nähe herumhüpfen und unsere Nahrung bedrohen. Wie es aussieht, sind die Natur, ein nordischer Systemvergewaltiger und eine verachtenswerte Sphinx die Eckpfeiler eines Tableaus, in dem sich das gesamte moderne Leben in all seiner Entsetzlichkeit zeigt.
»Ich glaube, auch Gisela kann mich nicht besonders gut leiden«, sage ich bedächtig.
»Leiden? Gisela hasst dich. Sie kann dich nicht ausstehen .«
»Oh?
Weitere Kostenlose Bücher