Das Buch Gabriel: Roman
Besser als jetzt wird es nicht.«
Wir halten den Atem an, Austernschalen schweben abwartend in der Luft.
»Er hält also an, steigt aus, geht weg – und kehrt nie zurück.«
» Was ?« Thomas fährt zurück. »Ich glaube nicht, dass ich das gebracht hätte.«
»Noch nie habe ich von einer reiferen Handlung eines Menschen gehört. Bei seinem ersten Date muss man das natürlich noch nicht tun, er aber hatte alles gesehen und alles geschmeckt. Aber warum hat er das getan? Weil er entdeckt hatte, dass der Höhepunkt jedes Genusses in dem Augenblick davor liegt. Ihm wurde klar, dass es eine Wahrnehmung in der Gegenwart nicht gibt, dass sich alles erst in der Rückschau ausprägt, in der Erinnerung. Und das ist der Moment, in dem der Genuss stirbt. Als er aus dem Auto stieg, bewahrte er eine perfekte Zukunft und versiegelte sie in der Gegenwart des Moments, vor dem Zugriff der Erinnerung an das Erlebnis selbst. Eine Autofahrt ist nur eine Autofahrt. Ein Fick ist nur ein Fick – er endet mit stinkendem Atem am Morgen. Pike dagegen verwandelte perfektes Potenzial in etwas Unvergängliches. Es kann nie schlecht ausgehen, es ist nie vorbei. In dem Augenblick vor der Befriedigung fand Pike wahre Ekstase.« Gebannt sitzen wir im Dunst der Implikationen, bis Didier mit den Schultern zuckt: »Nur wer solche Dinge erkennt, lernt wirklich zu leben.«
»Bemerkenswert«, sagt Thomas. »Außer vielleicht …«
»Herrgott noch mal – willst du mich jetzt wirklich fragen, was das eigentlich zu bedeuten hat? Das machen nämlich alle, ha – aber überleg doch mal. Es bedeutet, dass der beste Augenblick nicht beim zwanzigsten Bier kommt, sondern beim ersten, das noch unangetastet vor dir steht. Es bedeutet, dass menschliche Sehnsucht sich erfüllt, wenn eine Tür sich öffnet, und nicht, wenn man tatsächlich hindurchgeht.«
»Also eine Philosophie der Beschränkung? Der Akzeptanz?«
»Eine Philosophie des Erwachsenseins. Nur Babys wollen alles haben. Pike hat seine Jugend damit verbracht, Europa die guten Weine wegzutrinken – und irgendwann kam der Moment, in dem er den Wein lieber selbst anbaute.«
»Was für eine Ironie, dann ausgerechnet seinen Wein auszuschenken – seine Überzeugung widerspricht doch allem, was die Bankettgäste für richtig befinden.«
»Sie übersteigt den Horizont der Gäste sowieso«, sagt Didier herablassend. »Aber Geld selbst bringt eben keinen Genuss, sie verschlingen es so gefühllos, wie Haie Fische fressen.«
»Und hat die Geschichte noch eine Pointe?«
»Oh ja«, grinst Didier. »Danach musst du ihn aber eines Tages selbst fragen. Jetzt sollten wir uns mal mit unserem Genossen hier unterhalten, für den Fall, dass er ein schlechtes Gefühl hat.« Er wendet sich an mich.
»Na ja«, sage ich, »Smuts sitzt immer noch im Gefängnis und hat in vier Tagen seinen Gerichtstermin. Er glaubt, dass wir ihn vergessen haben.«
Didiers Brauen senken sich in Richtung Nase. Seine Augen werden zu Schlitzen, er lehnt sich zurück, breitet die Arme aus und entblößt dabei den Oberkörper; so verharrt er kurz und sieht mich missbilligend an, dann faltet er sich wieder vornüber auf den Tisch zurück, und sein Gesicht gleitet auf mich zu. »Zweifelst du etwa an meinem Wort, wenn ich dir sage, wir haben den Fall unter Kontrolle?«
»Es lässt sich nicht leugnen, dass die Zeit langsam knapp wird.«
Er mustert mich regungslos, dann sagt er: »Nimm bitte zur Kenntnis, dass die Schwierigkeit in diesem Fall darin besteht, Smuts’ Hände sauber zu waschen, ohne unsere dabei schmutzig zu machen. Ja? Und das geht nur auf eine einzige Art und Weise. Morgen kümmern wir uns drum.«
»Aber morgen ist der letzte Werktag in dieser Woche.«
»Bon.« Er klopft auf den Tisch und steht auf. »Danke, meine Herren, ich muss los. Thomas, vielleicht könntest du an meiner statt Gabriel unser Angebot unterbreiten – wir sehen uns dann alle morgen. Wird ein großer Tag, ha.«
Und damit entschwindet er im Lebensmittellabyrinth.
Thomas und ich brauchen eine Minute, um uns in der Abwesenheit, die der Baske zurückgelassen hat, zurechtzufinden. Nach einem Schluck Champagner beugt sich Thomas dann zu mir: »Ist dir die Position des pursuivant bei derlei Veranstaltungen geläufig? Genauer gesagt, des alarum pursuivant ?«
»Kann ich nicht behaupten, nein.«
»Sehr wichtig. Die Position des pursuivant , des Unterherolds, hat mit einem in Vergessenheit geratenen Akt eines Festes zu tun, nämlich mit seinem Anfang und seinem
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