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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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ist eine zu intime Sache für Tageslicht, beschließe ich. Mit Gewalt unterdrücke ich den Impuls, mir Anna unter ihren Klamotten vorzustellen – nicht dass mich noch eine kleine gedankliche Romanze erfasst. Was in diesem Moment bitterer Hohn wäre. 35 Denn da ich nicht dazu in der Lage bin, aus den Trümmern des Tages irgendeinen brauchbaren Plan zu bergen, und einen verheerenden Zusammenstoß der Welten kommen sehe, hat sich der zeitliche Horizont meines Lebens eigentlich auf Minuten verkürzt. Mehr als einen einzigen Rückschlag, eine einzige unerwünschte Offenbarung braucht es nicht mehr, damit ich die Odyssee zu ihrem Abschluss bringe. Nach all den falschen Enden, enttäuschten Hoffnungen und plötzlichen Wendungen ist das hier definitiv die Spitze des Kegels.
    »Wenn es dunkel wird, muss ich wahrscheinlich weg«, sage ich. »Kommst du klar?«
    »Pff – besser, als dir zuzusehen, wie du dich betrinkst.«
    »Ich werde mich nicht betrinken.«
    »Dann will ich es erst recht nicht wissen. Zu Hause ist es auf jeden Fall besser als bei Herrn Pietsch.«
    »Gottfried? Das ist vielleicht eine Type. Sogar sein Gesicht fängt plötzlich an, Regung zu zeigen.«
    »In letzter Zeit kommt er jeden Morgen auf einen Kaffee vorbei. Ich mach morgens den Imbiss auf. Er beobachtet dich.«
    »Alte Angewohnheiten wird man schwer wieder los.«
    »Ich wünschte, das wäre anders. Warst du schon mal in der Stasi-Zentrale? Ich will nicht schlecht über Herrn Pietsch reden, er kann ein ganz feiner Kerl sein, und ich weiß, er ist bloß einsam. Aber im Stasi-Museum sehen alle aus wie er – unheimliche alte Bauern mit Tieraugen.«
    »Gibt’s die denn immer noch?«
    »Auf den Fotos! Und die ganze Zentrale ist genauso traurig. Wenn man sich ansieht, was für eine Qualität die Sachen in der DDR gehabt haben, das ist jämmerlich, erinnert an Bastelarbeiten von Schulkindern. Es gab überhaupt keine Anreize. Wenn du was besser gemacht hast als der schwächste Genosse, hast du ihn schlecht dastehen lassen, und alle haben dich gehasst. Also haben alle lieber gleich den kleinsten gemeinsamen Nenner angepeilt.«
    »Der freie Markt funktioniert genauso, aber er zieht Profit daraus.«
    »Ja, und das ist natürlich noch schlimmer und verteilt den Reichtum nur nach oben. Immerhin hast du im Sozialismus eine gute Ausbildung und immer irgendeinen Job bekommen. Aber es muss ein besseres kollektives Modell geben als das der DDR. Es war so deprimierend. Im Museum gibt’s noch die Stofffetzen, die während der Verhöre auf den Stühle lagen. Sie haben den Geruch deines nervösen Arschs in Flaschen gestopft, um Hunde auf dich ansetzen zu können.«
    »Dann ist der arme Gerd also«, überlege ich, »durchs Bildungsnetz gerutscht.«
    »Hä? Der arme Gerd ist Physiker. Teilchenphysiker, glaube ich. Gottfried hat ein Ingenieursdiplom. Gisela ist Logopädin.«
    »Was?«
    Annas Augen werden so schmal, bis sie mich nur noch anblitzen. »Klar, ich verstehe – nur weil du uns nicht grinsend in einem Porsche sitzen siehst, hältst du uns für Prolls!«
    »Nein!«
    »Himmel hilf! Zuerst bist du überrascht, dass hinter unseren ernsten Gesichtern überhaupt Persönlichkeiten stecken, und dann findest du – oh mein Gott! – sogar Bildung unter den Würstchen und dem Kaffee! Wenn das so weitergeht, musst du uns bald noch als ebenbürtig wahrnehmen! Oh Gott, oh Gott, eine Krise! Hey, Mister Kotzdekadenz – ich gehe mal davon aus, Sie haben den Nobelpreis für Medizin in der Tasche?«
    »Ehrlich gesagt, nein – ich habe einfach nicht nachgedacht.«
    »Nein? Aber doch sicher den dreifachen Doktortitel in Molekularbiologie! Oder haben wir das mit dem Studieren nicht nötig?«
    »Ich habe Altphilologie studiert, aber …«
    »Pff, ach so ist das! Ein Mädchenabschluss, damit kriegst du noch nicht mal eine Stelle als Lehrer.«
    »Na ja – den Abschluss hab ich nie richtig gemacht.«
    »Auch das noch! Jetzt steht der Pöbel mit den leeren Gesichtern plötzlich auch noch besser da! Und als was arbeitet er dann? Er muss Kurator am National Museum sein! Oder Intendant am Staatstheater! Konzertpianist!«
    »Hm.« So langsam steht alles in einem ganz schön anderen Licht da. »Im Moment mache ich nichts. Ich war Koch. Ironischerweise hauptsächlich Würstchen.«
    »Ha!« Sie stößt einen Schrei gen Decke aus. » Ha! Der große Herr Doktor Kotze aus England! Professor Bluter aus dem Westen! Im Vergleich mit dir sieht die DDR ja wie eine Hochkultur aus!«
    »Gott, bist du

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