Das Buch Gabriel: Roman
hart«, sage ich schließlich. »So richtig sympathisch findest du mich nicht, oder?«
»Ist denn irgendwas an dir sympathisch?«
»Jedenfalls dachte ich das mal.«
»Und an was dachtest du da?«
In der nun folgenden Gesprächspause, deren Schicksal es möglicherweise ist, immer und ewig zu dauern, beschließe ich, nach einem versöhnlicheren Ende zu suchen:
»Und warum arbeitet Gerd dann nicht als Wissenschaftler? Wenn jemand in einem Kiosk arbeitet, muss man ihn ja nicht sofort für einen Teilchenphysiker halten.«
»Ich glaube, er konnte es sich nicht leisten. Es ist ein extrem spezialisiertes Feld, und wie du dir sicher vorstellen kannst, standen Ostdeutsche nicht gerade im Ruf, besonders aufstiegs- und leistungsorientiert zu sein. Direkt nach der Krise mit dem Club ist er mit Schulden in die Ehe geschlittert und hatte keine Zeit, seine Karriere voranzutreiben. Er schuldet der Familie seiner Frau bis heute Geld. Der Kiosk sollte eine Zwischenlösung sein, eine Startrampe für irgendwas Besseres – aber das kam dann nie.«
»Na ja«, sage ich, »aber du weißt, dass ich nie behauptet habe, besser zu sein als andere.«
»Nein – du hast ja nur Theorien aufgestellt über die Einheimischen und ihre Gesichtsausdrücke! Hast herausgefunden, dass hinter ihren strengen Mienen vielleicht sogar Typen mit niedlichen folkloristischen Gepflogenheiten stecken könnten – hast du überhaupt eine Ahnung, was für eine Type Herr Pietsch ist? Dein neuer Ferienfreund? Ich werd’s dir sagen: Er ist das Ergebnis einer Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten nach dem Krieg. Er wurde im Klo eines Krankenhauses liegen gelassen und mit rasiertem Schädel vom Staat großgezogen. Als Junge hat er Schach gespielt, und die Leute nahmen Notiz von ihm, denn beim Schach zählen jung oder alt, Mann oder Frau, reich oder arm nicht – beim Schach treffen einfach nur die Köpfe der Spieler aufeinander und nichts sonst. Und sein Kopf war klar und brillant. Er arbeitete hart und bekam ein Stipendium für ein Maschinenbaustudium. Für seine Diplomarbeit hat er Preise bekommen. Er bekam einen Job in Moskau, und es heißt, dass ihn auch dort niemand beim Schach schlagen konnte. Er war bekennender Marxist, dein bescheidener Freund, und er steckte inmitten einer einzigartigen historischen Konstellation. Als er nach Ostdeutschland zurückkam, genoss er in der Partei hohes Ansehen, und sie beförderten ihn auf eine vertrauliche Position im Ministerium für Staatssicherheit. Und da fiel ihnen dann auf, dass deine kleine Type das Zeug zu einem äußerst gewieften Vernehmungsoffizier hatte. Jedes Geheimnis, das man mit ihm zusammen in ein Zimmer sperrte, kam ans Licht. Natürlich! Schließlich kannte er die Schaltstellen des Geistes! Jede Vernehmung ging er wie ein langes, langsames Spiel an, wie ein Endspiel. Und er hat immer gewonnen. Aber irgendwann hat dein kleiner Freund etwas Falsches gesagt, und während seiner letzten Dienstjahre bekam er nur noch Abhöraufgaben zugeteilt. Tag und Nacht saß er alleine in einem Loch und hat einen Kassettenrekorder an- und ausgemacht. Um nicht verrückt zu werden, lernte er die Klassiker der deutschen und der russischen Literatur auswendig.«
Anna durchbohrt mich mit ihrem Blick, sie will, dass ich mich auch wirklich durchbohrt fühle. »Als der Staat zusammenbrach, war er zu alt, um sich noch auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Er konzentrierte sich darauf, Dinge zu reparieren. Er ging in den Westteil der Stadt und eröffnete die Werkstatt, in der er Fahrräder reparierte. Das also ist der Mensch, den kennenzulernen du die Ehre hattest. Jemand, der ein Leben hat und damit genau das anstellt, was er damit anstellen sollte – er schafft sich eine Umgebung, in der er seine Begabungen zugunsten der Sache einsetzen kann, an die er glaubt.«
Sie beugt sich vor: »Und du? Kann er dir mit deinen ganzen Erfolgen auch nur annähernd das Wasser reichen? Wahrscheinlich nicht. Er war noch nie in Spanien, noch nicht mal eine Woche. Er verpasst jede Big-Brother -Staffel. Er hat nie gelernt, eine SMS zu verschicken, er hatte auch noch nie ein Handy. Er kotzt nicht, wenn er trinkt. Er blutet nicht aus der Nase. Er hält niemanden für eine Type , weil er weiß, dass die Ticks, die du für Persönlichkeit hältst, nichts mit der Funktionstüchtigkeit eines Kopfes und der Verlässlichkeit einer Person zu tun haben. Weswegen sie unwichtig und irreführend sind. Sich an diese Ticks zu halten, als würden sie den
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