Das Buch Gabriel: Roman
kann ich sehen. Gewaltanwendung käme für dich nicht Frage. Nein, du bist ein Romantiker, ein Träumer, und ich halte es für wahrscheinlicher, dass du ins Wasser gehen würdest. In diesem Fall ist es eine gute Sache, dass hier kein Meer in der Nähe ist.«
Darauf folgt eine Pause, die mich zu einer Erwiderung einlädt, und ich sehe auf, ringe um eine alles abstreitende Formulierung – aber bevor ich überhaupt den Mund öffnen kann, hat Gottfried schon in seine Manteltasche gegriffen und meinen Notizblock herausgezogen, den er auf der ersten Seite öffnet:
»Meine Situation hat keinen Namen«, liest er vor und gibt mir den Block zurück. »Mit solchen Notizen solltest du vorsichtiger umgehen.«
Meine Venen zerschmelzen zu Wasser. Gottfried greift nach meiner Schulter und spricht leise auf mich ein, während er mich vom Flughafen wegführt: »Das Leben ist ein merkwürdiges Tier, die Grenzen, von denen wir denken, dass sie existieren, kennt es nicht. Situationen können sich jederzeit umkehren. Und unsere Jagd nach Anerkennung macht uns anfällig für Manipulationen. Natürlich geraten dabei die Dinge außer Kontrolle, denn genau das sollen sie ja – man halte sich bloß vor Augen, wie viele Industriezweige davon abhängig sind. Was ich dir damit sagen will, ist Folgendes: Zusammen könnten wir damit vielleicht fertig werden. Du hast Mitstreiter. Das Meiste von dem, was hier passiert, habe ich ja schon selbst herausgefunden, nur deine Verbindung dazu ist mir noch etwas unklar, irgendwo fehlt mir noch ein Spielstein. Aber das ist nicht so wichtig. Wir beide wissen, dass hier morgen ein Finale stattfindet. Und ich glaube, wir sollten uns davor noch mal unterhalten. Der Lauf der Dinge ist manchmal gar nicht so unabänderlich, wie es den Anschein hat. Wir wären eine neue Partei im Spiel – und wir hätten die meiste Macht, und weißt du auch warum?«
Gottfrieds Gesicht scheint größer zu werden.
»Weil wir die einzige unsichtbare Partei sind.« Nach einer kleinen Pause redet er wieder leiser weiter: »Geh nach dem Mädchen sehen, sie wird sich schon Sorgen machen.«
»Und was ist mit Gerd? Wenn er hier nicht ist …«
»Um ihn brauchst du dir keinen großen Kopf zu machen. Ich kenne ihn schon lange, und eines weiß ich: Er ist nicht besonders einfallsreich. Das ist das Schöne an Gerd Specht.«
Gottfried schickt mich also los, um Anna zu finden, und ich, völlig fertig von seiner Ansprache, gehe in die Großbeerenstraße und versuche, die Splitter der mir bekannten Welt zusammenzutragen. Hinter der Piratenburg betrete ich ein dunkles, altes Haus mit einem ausgefransten Sisalteppich auf der Treppe, und im dritten Stock öffnet Anna die Tür.
»Keine Spur von ihm am Flughafen«, murmele ich.
»Tja. Dann weiß ich auch nicht. Aber du hast dir einen Charakterpunkt verdient.«
»Danke. Wie viele brauche ich, um den Durchschnittswert zu erreichen?«
»Zehntausend«, sagt sie.
Kein Lächeln begleitet diesen Kommentar. Ich betrete Annas Wohnung, leise und zaghaft, so wie alle Menschen fremde Wohnungen betreten.
Anna redet erst wieder mit mir, als ich aufs Klo gehen möchte.
»Hinten rechts.« Sie zeigt zum Flur. »Ich mache solange Tee.«
Ich tapse den Flur hinunter und verlangsame den Schritt, als ich an einer offenen Schlafzimmertür vorbeikomme. Über einem Berg von Kleidern ist ein Poster mit einer riesigen Schildkröte an die Wand gepinnt. »Solitario Jorge« , steht unter dem Bild. Alles in dieser Wohnung sickert in mich ein und beschwert mich mit Gefühlen, dann erwischt mich der Geruch von Billigseife und macht mich endgültig fertig. Nicht dass sie billig ist, ist so deprimierend – nein, als ob meine Probleme mich schmutzig gemacht hätten, bin ich sogar froh, mir die Hände waschen zu können, und tue es gründlich. Aber der Geruch in Kombination mit dem grauen Licht vor dem Fenster hat den Beigeschmack harter Realität.
Und das ist der Geschmack von Niederlage. Ich beeile mich, wieder aus dem Bad zu kommen.
»Setz dich.« Anna zieht einen Stuhl vom Küchentisch weg. Kekse liegen auf einem Teller, und sie reicht mir einen Becher mit dampfendem Schmutzwasser.
»Was ist das?«
»Salbeitee. Kannst du jetzt brauchen.«
Wir nippen am Tee und spielen an unseren Bechern herum. Gelegentlich ergeben sich kleine Wortwechsel, irgendwo tickt eine Uhr, ringsherum herrscht Stille. Teeschlürfen mischt sich mit Seifengeruch und Verzweiflung und durchwirkt die Atmosphäre wie ein Bassdröhnen. Billigseife
Weitere Kostenlose Bücher