Das Buch Gabriel: Roman
ohne erkennbaren Grund: »Hast du das Mädchen gekriegt?«
»Was für ein Mädchen denn?«
»Jetzt tu nicht so.«
»Anna? Du machst Witze.«
»Ich mache nie Witze.« Gottfried nimmt einen Schluck von dem Bier. »Den Fragen nach zu urteilen, die sie mir stellt, stehen deine Chancen nicht schlecht. Sie weiß nur noch nicht so ganz, was für einen Reim sie sich auf dich machen soll.« Er hält es für angebracht, an der Kreuzung stehen zu bleiben und mir ins Gesicht zu starren. »Alle Männer tragen den Wahnsinn in sich. Und manche weit mehr als andere. Ich weiß das nur zu gut. Ein Mann ohne eine starke Frau ist wie ein Schiff, dem in der Nacht die Ankerkette gerissen ist. Das kann gefährlich werden.«
»Hm – tja, gut, dass du das erwähnst, auf jeden Fall. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie anwidere. Ich kenne sie zwar kaum, aber so viel hat sie mir schon verraten.«
»Und ich kenne dich kaum. Aber vielleicht ist sie nur davon angewidert, wie du mit dir selbst umgehst. Was etwas anderes ist. Nehmen wir mal an, ihr Vater war ein ausgezeichneter Schriftsteller, der wegen seinem starken Hang zum Alkohol zu früh aus dieser Welt geschieden ist und sie alleine gelassen hat – hm? Plötzlich ändert sich das Bild.«
Whoosh: Licht erhellt die Manege, das Bild bekommt neue Tiefen, die mich während des Spaziergangs den Berg hoch verstummen lassen. Wie erstaunlich, denke ich, dass das Leben mir immer noch Offenbarungen hinwirft, Lichter anknipst und Türen aufstößt. Das Bild ändert sich tatsächlich.
Nach diesem bedeutsamen Dialog, der sich aus dem so häufig zwischen Lebenskapiteln aufsteigenden schimmernden Dunst unerwarteter Veränderung herauskristallisiert hat und der, das kann ich spüren, für ihn genauso ungewöhnlich war wie für mich, zieht sich Gottfried in sich selbst zurück; sein Gesicht kommt nach und nach zur Ruhe und beschränkt sich wieder auf die Augenbewegungen eines Krokodils. Wir betreten die Eingangshalle des Flughafens. Gottfried scheint es nicht besonders eilig zu haben, Gerd zu finden. Ja, ich frage mich sogar, ob ihn die geheimnisvolle Betriebsamkeit auf dem Flughafen nicht irgendwie belebt, ob er den Dunst der Veränderung als attraktiv und verjüngend empfindet – denn nach kurzer Zeit schlägt er vor, dass wir uns draußen ein wenig umsehen. Als wir über den Parkplatz auf das Cateringmobil zuspazieren, fällt mir auf, dass er sich gerader hält, dass er die Brust ein kleines bisschen weiter vorstreckt. Und zum zweiten Mal schon habe ich ihn jetzt geschrubbt und wohlriechend vorgefunden, in frischer, sauberer Kleidung. Irgendetwas in der dunstigen Welt des Limbus zieht Gottfried an.
Irgendetwas an Abenteuer tut ihm gut.
Kurz bevor wir den Wagen erreichen, entdecken wir einen offen stehenden Lieferanteneingang. Aus dem Dämmerlicht heraus fesselt eine gemalte Kreatur unsere Aufmerksamkeit, und wir gehen hinein, um sie genauer anzusehen. Ein Satyr mit Pferdeschweif blickt uns boshaft von einem großen Holzpaneel entgegen. Vielleicht ist er Teil eines Jahrmarktzaunes. Das Ölbild ist gar nicht schlecht gemalt, der Satyr wird von der Sonne beschienen und bewegt sich in einem anfallsartigen Zustand größter Heiterkeit vor einem Hintergrund aus Waldesdunkel; am oberen Rand wird das Bild bekränzt von Zweigen, Blättern und Früchten. Andere Geschöpfe sind nur im Ansatz zu erkennen, und ich ziehe das Paneel vor, um dahinter weitere Tafeln freizulegen. Da ist Pan mit seiner Flöte, den Kopf in ekstatischer Enthemmtheit zurückgeworfen, und neben ihm eine Meduse, deren Schlangen sich winden und kringeln und durch die Äste über ihrem Kopf die Zähne zeigen.
»Neunzehntes Jahrhundert«, sagt Gottfried. »Vielleicht von einer alten Monstrositätenschau.«
Die letzte Holztafel ist das Kopfteil, ein chaotisches Durcheinander aus Nymphen und Kobolden, die aus Bäumen hervorbrechen, ihre Zähne in reifes Obst schlagen und die Vögel im Geäst aufschrecken, wohingegen große Jahrmarktslettern verheißungsvoll verkünden: Launen des Schicksals .
Als ich mich von den Tafeln abwende, sehe ich, wie Gottfried mich beobachtet. Er rührt sich nicht und blinzelt nicht. Nach einem langen Schweigen verengt er die Augen zu Schlitzen und fragt: »Fühlst du dich unwohl?«
»Hm – ich habe mich schon besser gefühlt.« Ich kann spüren, wie er meine lebenswichtigen Funktionen erfasst.
»Du siehst nämlich ziemlich bleich aus.« Er artikuliert die Wörter leise, in einem Flüsterton, auf
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