Das Buch Gabriel: Roman
zufliegen wie ihm, dass ich ihn aus einer dieser Gassen einfach in eine andere setzen kann, am anderen Ende der Welt.
Ich hatte allerdings noch nie Netzwerke. Oder gute Angebote. Oder Genie.
Nur einen Verbündeten hatte ich mal.
Unsere Kurven haben sich allerdings auch wieder voneinander entfernt – sehen Sie nur: Er ist dazu verdammt, hoch über dem Chaos in einer Stratosphäre aus Hoffnungen und Träumen zu leben, während ich hier am Boden klebe und mich von einem hart erkämpften Teilerfolg zum nächsten ackere. Zwischen uns erstreckt sich das Diagramm, in dem jede Existenz angesiedelt ist. Jeder Tag im Limbus steht plötzlich modellhaft für das gesamte Leben.
Als ich anhalte, um meine Hornknöpfe zu richten, fällt mir auf, dass wir mittlerweile sogar schon den Motor des Master-Limbus veranschaulichen können: Sehen Sie, wie er unsere Tagträume melkt und dazu benutzt, uns zu ködern, uns, die wir blind im Entsetzlichen herumtasten. Und jetzt muss ich seinem Beispiel folgen. Ich muss Specht melken, diesen Anwalt des Lasters. Anstatt Smuts mit der Welt der Tatsachen zu harmonisieren, muss ich der Wirklichkeit einen derartigen Auftrieb verpassen, dass sie seinen Bedürfnissen entspricht. Vielleicht reicht ja schon eine einzige dynamische Performance, um das Faktische mit dem Tivolihirn in Einklang zu bringen.
Ich reiße mich zusammen, eile die letzten Meter des Hügels hinauf und erreiche schließlich die Kuppe, wo ich wie vom Donner gerührt stehen bleibe.
Meine Atmung verlangsamt sich, wird tiefer.
Von jetzt auf gleich knallt einem der alte Flughafenkoloss in den Blick, von der anderen Seite eines kleinen Gedenkgartens her. Er legt seine Dimensionen nicht auf den ersten Blick komplett offen, sondern lockt eher über die Baumwipfel hinweg. Kein weitläufiges Grundstück umgibt ihn, keine Parkflächen; er steht einfach wie eine plötzliche gebirgige Erhebung neben dem Bürgersteig. Mit wachsendem Erstaunen gehe ich in jede Richtung einen Häuserblock weit und gebe mir alle Mühe, ein Gespür für seine Masse zu bekommen. Hitlers Monolith umarmt das Flugfeld zwischen seinen halbkreisförmigen Flügeln, die einen rhythmischen Bogen aus haushohen Sandsteinplatten und kaskadenförmig fallenden Glasbändern beschreiben, in beide Richtungen erstreckt er sich bis außerhalb der Sichtweite. Wer weiß, wo der Komplex aufhört, wahrscheinlich erst in Polen, auf jeden Fall aber weiter weg, als man vernünftigerweise zu Fuß gehen würde. Makellos, entschlossen, symmetrisch; ein Déco-Ungeheuer, ein wunderschönes, unantastbares Ding, das man sicher unmöglich aus der Landschaft radieren könnte. Und am Scheitelpunkt des Bogens, an der Kreuzung von Tempelhofer Damm und Columbiadamm, ragen mir zwei quadratische, sandsteinfarbene Gebäude entgegen, jedes so groß wie ein Kreiskrankenhaus, die die Klauen des Raubvogels darstellen; im Gesamtzusammenhang des Gebäudekomplexes sind sie winzig, aber zwischen ihnen liegen ein Park- und ein Vorplatz, über denen das legendäre Wort ZENTRALFLUGHAFEN am Haupteingang schwebt.
Die Berliner von gestern Abend lagen falsch: Da würden tausend Clubs reinpassen.
Von meinem Standpunkt aus kann ich keinerlei Bewegung vor den Gebäuden ausmachen – als ob ihre Gravitationskräfte alles abstoßen würden, was kleiner ist als eine Kirche. Als ich dann über den kleinen Parkplatz laufe, kann ich zwei vor dem Eingang herumlungernde Männer erkennen. Ihre Kleidung erinnert an alte Frachter und Schleppkähne und bauscht sich prägnant auf, zweifellos bedingt durch die Schwerkraft. Gemeinsam mit den Steinadlern, die mürrisch von den Außenwänden spähen, sehen sie mir zu, wie ich eintrete. Die Glastüren hinter mir scheppern, um den Druck auszugleichen. Dann Stille. Zu meiner Rechten und Linken erstreckt sich eine schmale, steinerne Vorhalle, völlig menschenleer. Zwei Plakate mit Gesuchten Terroristen kleben an der Wand. Und vor mir öffnet sich ein Raum von der Größe einer Kathedrale, eine gigantische, einige Treppenstufen nach unten gesetzte Fläche, unter deren Decke Segelflugzeuge hängen. Auf der linken Seite befinden sich leer stehende, gläserne Ladenlokale, entlang der rechten Seite zieht sich eine saubere Reihe von Check-in-Schaltern, die von hier aus wie Miniaturen aussehen und bis auf einen, an dem, auf die Ellbogen gestützt, ein Mädchen steht, leer sind. Wenn es keine tief zwischen die eleganten Steinrippen geschnittenen Fenster gäbe und hoch oben kein Licht durch die
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