Das Buch Gabriel: Roman
Geschichte das schwache, erstaunliche Gefühl von Stolz: Es ist mein Master-Limbus, der die Bonbons abgeworfen hat. Was in mir die Frage aufwirft, ob er damals schon derselbe war wie heute – und vielleicht einfach nur aggressiv geworden ist, wie ein Tumor.
»Wow.« Ich drifte zurück in den Moment: »Und ihr habt Specht da schon gesehen?«
»Klar«, nickt der Genosse. »Letztes Jahr habe ich jemandem vom Flieger aus Brüssel abgeholt – der letzte internationale Linienflug nach Tempelhof. Specht war vorne und hat eine Getränkelieferung entgegengenommen.«
Ich sitze da und sauge das alles in mich auf, bis explodierende Traumbilder das Gespräch zerstäuben und in den Hintergrund treten lassen. Vor allem ein ganz spezielles Bild wird zu einem Fixpunkt: Eine sphinxartige Figur alleine am Kopfende eines Banketttischs, in der Mitte eines monumentalen Saales, der aufs Eleganteste verwittert ist.
Das ist es: Die Ausstattung meines Ablebens nimmt Form an. Und sollten Sie annehmen, ein solches Aufflackern der Hoffnung laufe der Sache des Selbstmordes zuwider, lassen Sie mich versichern: Dem ist nicht so, im Gegenteil. Von meiner Position aus kann ich sagen, dass der Druck, endlich in die Gänge zu kommen, sogar steigt. Alle meine Bindungen sind durchtrennt, im Warten bin ich zu einem Gespenst geworden. Auch wenn Ihnen das bei meinen bisherigen Überlegungen, meinen Ausführungen zu dieser oder jener Trennung entgangen sein mag – Tatsache ist, dass ein freiwilliger Tod nur eine einzige Ursache hat:
Die Abwesenheit von Liebe.
Eine Abwesenheit, von der ich im Übermaß habe.
Die beiden Männer wechseln noch ein paar letzte Worte, dann verabschieden wir uns und gehen in den Abend hinein, jeder für sich. Als ich den Weg, den ich gekommen bin, wieder zurückgehe, bemerke ich, dass der Gram-See zum Großen Seher und die Schweinewelt zum Weinberg geworden ist. Als ein Taxi um die Kurve am Zionskirchplatz kommt, kämpfe ich gegen den Drang, mich nach Tempelhof fahren zu lassen, dort zu sitzen und das Gebäude so lange zu betrachten, bis es ganz dunkel geworden ist.
Denn es besteht die Möglichkeit, dass Specht über Räumlichkeiten verfügt, wie es keine zweiten gibt auf der Welt und auch in der Geschichte noch nie gab. Ein kilometerlanges Monument, wo Flugzeuge direkt bis vor die Tür fliegen.
Mir schaudert bei der bloßen Vorstellung.
Im Lichte dieses Durchbruchs – man kann es durchaus Durchbruch nennen, wenn die Möglichkeit ihren Rock lüftet, vor allem, wenn sie damit eine verzweifelte Hoffnung nährt – ziehe ich keine Lines mehr und trinke keine weiteren Getränke. Bedächtig gehe ich zur Telefonzelle und halte links und rechts nach der Tram Ausschau.
Aber in Tokio gibt es ein Problem. Smuts kommt nicht an den Hörer. Der diensthabende Polizeibeamte hat eine Menge zu sagen, aber was er sagt, weiß ich nicht. Als ich Smuts’ Name wiederhole, antwortet er mit größerem Nachdruck, und als ich versuche, ihm die Nummer des Kastanienhofs durchzusagen, gibt er mir genau dieselbe Antwort, nur lauter.
Am Schluss grunzen wir uns beide nur noch an, und er legt auf.
Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Vielleicht ist es schon zu spät für alles – obwohl Smuts doch gesagt hat, dass es Wochen dauern kann, bevor in Japan Anklage erhoben wird, und ich gehe davon aus, dass eine Anklage der nächste Hammerschlag ist. Als ich es mit der Nummer der Übersetzerin versuche, lande ich auf dem Anrufbeantworter, so dass ich schließlich um des lieben Seelenfriedens willen konstatiere, dass Smuts seine Telefonprivilegien für den Moment wohl aufgebraucht hat. Ich sollte ein bisschen schlafen, mich zeitig auf den Weg nach Tempelhof machen und von dort noch mal mit konkreteren Infos anrufen. In Japan ist dann immer noch derselbe Tag. Und vielleicht gibt der Polizist in der Zwischenzeit durch, dass ich angerufen habe.
Werfen Sie einen Blick auf meine schwungvollen Pläne! Sehen Sie, wie der menschliche Geist Chaos und Versagen zu perfekter Sinnhaftigkeit verwebt, wie er aus Ungereimtheiten funktionierende Vorrichtungen macht, wo das eine fruchtbar zum anderen führt, bis ein Problem sauber durchtunnelt ist. Die Utopie der Kontrolle. Dass Schlaf Erfrischung bringen muss, ist eine Lüge aus der Kinderliteratur, die von faulen Eltern immer wieder aufrechterhalten wird. Denn es stimmt nicht. In einer Situation wie meiner sollte ein Kind lieber ein schönes Glas Wein trinken, eine Zigarette rauchen und mit einem Elternteil
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