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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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Blätterteppich umschließt. Irgendwie einladend, und wir setzen uns, wobei wir die Krägen hochklappen und die Mäntel fest um uns ziehen. Mir geht durch den Kopf, wie selten man auf eine derart ungebändigte Natur in ihrer kannibalischen, chaotischen Reinform trifft, wo ein Parasit auf dem anderen hockt – den freien Markt mal ausgenommen. Mit dem Handy leuchtet Thomas in seinem Zigarettenetui ein kleines Döschen Koks, eine Rasierklinge und einige Joints oder Zigaretten an. Ich ziehe mein Etui ebenfalls hervor und finde dasselbe, aber er hält mich davon ab, das Kokain zu öffnen: Ganz zuunterst liegt ein Zellophanbriefchen, das ein rechteckiges Löschpapier mit LSD enthält. Mit der Klinge schneidet er für jeden von uns ein Eckchen ab.
    »Koks würde uns auskühlen«, sagt er. »Das hier ist auch schnell, hält aber länger an. Wir brauchen gar nicht viel, nur genug, um ein Basislager einzurichten.«
    Ein Basislager. Die Worte eines Hexenmeisters. Die Papierstückchen spülen wir mit der Vogelbeere runter, und er zündet eine Zigarette an, deren bitterer Rauch sich mit dem Bodennebel mischt. Ich ahne, dass es Heroin ist. Ich sitze also im Gestapo-Hauptquartier und konsumiere mit einem Hexenmeister des Nimbus Heroin und Vogelbeerenschnaps. Wie kann das sein? Vor meinem geistigen Auge spannt sich ein historischer Faden von der Bistroküche nach der Schule bis hierher. Smuts hat den Faden aufgenommen und diesen Augenblick aus dem Meer der Möglichkeiten an Land gezogen; ein Augenblick, der zu einem Leben voller Genie, Wolllust und animalischem Glück gehört.
    Und jetzt sitze ich ohne Smuts am Ende des Fadens.
    Und es liegt an Thomas, Smuts wieder an Land zu ziehen.
    Er reicht mir den Schnaps und zündet sich einen Haschjoint an. Mir dämmert, dass mein Limbus ein paar Nummern kleiner ist als der Alltag dieser Männer. Die Kultur hat meinen Geist längst klein gekriegt. Was für mich Besinnungslosigkeit ist, ist für Thomas ein ganz normaler Donnerstagabend. Schwindelnd falle ich auf das Blätterbett und spüre mein Bewusstsein an seinen Bandagen zerren. Und frage mich, was erschreckender ist: Über einen Geist zu verfügen, der sich in höchste Höhen aufschwingen kann – oder eben nicht. Als eine Bö über unseren Köpfen raschelnd in die Blätter fährt, funkelt Thomas’ mich aus den schwarzen Augäpfeln einer Krähe an. Meine gedankliche Auseinandersetzung muss in die Luft gesickert sein, denn er sagt geheimnisvoll: »Beim Genießen Maß zu halten ist gar nicht nach meinem Geschmack. Göttlichkeit erreicht man über die Sinne; ob man sich der Sinneseindrücke erwehrt oder in sie eintaucht – wir leben proportional zur Tiefe unserer Empfindungen.«
    Die Worte bringen den Nimbus zum Aufflammen. Das LSD erreicht seinen Höhepunkt. Thomas legt sich auf den Rücken, und ich sehe sein Gesicht im Profil, seine offen stehenden Lippen, die herausstehende Zungenspitze. Er ist jetzt ein Mensch in Grundeinstellung, sein Körper nur noch Instrument; Ambition und Psychologie sind ausgeschaltet. Die Drogen haben uns abgekoppelt, wir sind wie leere Tunnel, durch die Stürme blasen können. Er dreht sich um, sieht, wie ich ihn betrachte, und wir lächeln in dem Wissen, dass wir uns wirklich kennengelernt haben. Um uns herum schäumt die Dunkelheit. Irgendwann klingelt sein Handy. Er hält es sich ans Gesicht, erleuchtet es in geisterhaftem Grün, aber was er sagt, höre ich nicht. Ich versuche, den Splittern auszuweichen, die aus dem Klingeln gefallen sind, werde aber trotzdem in beiden Augen getroffen.
    Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Natur.
    Sie hat mich in ihr Boudoir gelockt, und so liege ich hier. Nachdem ich mich so abfällig über sie geäußert habe. Ein rachsüchtiges Schicksal hat mich ihr ausgeliefert, vielleicht auch Smuts’ Faden oder das Bistro meines Vaters oder mein Limbus oder Himmler. In dieser Nacht besteht eine perfekte Verbindung zur einen oder anderen Ordnung, das spüre ich – zu welcher, ist mir noch nicht ganz klar. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Natur um uns lauert, so sicher wie der Geruch nach Scheiße die Nähe des Teufels anzeigt. Und tatsächlich fangen jetzt auch Blätter und Stängel an, sich auf mich zu stürzen, sie rucken und zucken, verschlingen und würgen mich, und unter meinem Schädel verwest die Erde. Ich habe eine Offenbarung – und zwar, dass es nicht in der Hölle heiß ist, sondern im Himmel: heiß und flüssig. Die Hölle dagegen ist kalt und

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