Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
Vom Netzwerk:
dann kommen ein Wäldchen, überwucherte Schienen und bröckelnde Bahnhöfe, die nach dem Krieg aufgegeben und irgendwie im Herzen Berlins vergessen wurden. Die Stadt verschwindet, an ihrer Stelle öffnet sich ein Land namens Gleisdreieck, wo einst der Hauptbahnhof des Dritten Reichs stand. Unsere Sinne schwirren ungezügelt umher, unsere Schuhe liegen vergessen in Himmlers Dschungel, und so schweifen wir plaudernd und lachend durch Ruinen, über Dünen, zwischen Schienensträngen, folgen Schildern zu längst versunkenen Orten, bis der Morgen zu einer Collage wird, zu einem Sonnentanz, bei dem wir schließlich schwer atmend zusammenbrechen, umfangen von weitläufigem, buschigem Dickicht, staubig wie Cowboys, einander liebkosend, bis wir erneut verschwitzt vor Sex sind.
    So liegen wir unter einem grasbewachsenen Vorsprung, Zeit vergeht, ein Luftzug streicht über uns hinweg, hebt Rocksäume an, verweht Haare – bis eines der Mädchen plötzlich gähnt.
    Und als hätte man einen Schalter umgelegt, ist die Nacht vorbei.
    Im Licht des Tages altern wir schnell, werden zu Höllenwesen, gefangen in Untiefen. Warnend fallen die langen Schatten des Unterholzes auf uns. Der Himmel wird blau, die Erfüllungsgehilfen der Natur sind sicherlich schon dabei, sich zusammenzurotten, um sich gegenseitig zu töten und zu zerfleischen. Wir entscheiden uns für einen Pfad entlang der Schienen, vorbei an alten Lagerhäusern, bis nach einer letzten Sandbank schlussendlich die Stadt wieder auftaucht. Direkt vor uns verläuft eine große Straße, und ich sehe, dass es die Yorckstraße ist. Wir sind in Kreuzberg. In Minutenfrist schnurrt der Mercedes heran, und wir fallen hinein, die Mädchen liegen kichernd auf uns; in der Gedämpftheit des Wagens schürt ihr modriger Geruch in mir den Wunsch, eine von ihnen mit nach Hause zu nehmen und dann bei einer Dose voller Kekse einzuschlummern. Doch ich spüre, es wird nicht passieren. Traurigerweise. Diese Mädchen besitzen die Fähigkeit, zu kommen und zu gehen.
    Ich lehne meinen Kopf ans Fenster und freue mich auf mein Bett, bis ich irgendwann merke, wie das Auto langsamer wird und wendet, als würde es sich einem Ziel nähern. Ich öffne ein Auge. Wie eine Festung dräut neben uns der vom Morgen noch nicht angeleuchtete ZENTRALFLUGHAFEN .
    »Du weißt schon noch, dass ich in Prenzlauer Berg wohne?«, krächze ich.
    »Hm?« Thomas’ Lider flattern: »Aber lass uns doch kurz mal unseren Komplex besichtigen.«
    Hämmernd springt mein Puls an.
    »Wir rufen den Basken gleich von hier aus an. Den Schlüssel hast du doch dabei, oder?«

16
    »Ich hab nie behauptet, dass eine Wiener nichts kostet. Ich sage doch nur: Wenn wir sowieso nichts dafür bekommen, dann lieber eine Wiener als eine Bockwurst. Verschenkt sie einfach so achtzig Cent!«
    »Meinst du die Bockwürste, die letzte Woche noch sechzig Cent gekostet haben? Sie werden also teurer, wenn sie schon grün sind – so läuft das in Gerds Reich.«
    »Ach, Gisela, mein Gott.«
    Durch die Tür sehe ich Thomas im Wagen warten, ein dösendes Mädchen an jeder Schulter. Notwendigkeit ist die Mutter des Übermuts, und ich habe ihm gesagt, er solle zehn Minuten warten, während ich die Sicherheit einer Inspektion eruiere. Wenn ich in dieser Zeit nicht zurück wäre, solle er losfahren, wir würden dann am Abend wieder in Kontakt treten. Er war einverstanden, vielleicht war es ihm sogar ein bisschen peinlich, dass er gedacht hatte, wir könnten hier hereinplatzen wie ein Junggesellenabschied.
    Zittrig stelle ich mich im Eingangsbereich so hin, dass man mich nicht sehen kann. Übelkeit durchnässt mich von innen, und meine bloßen Füße ziehen die Kälte aus einem Kilometer Steinboden. Meine Haare sind feucht und kleben mir im Gesicht. Mein Mantel ist eine Liaison mit der Natur eingegangen und voller Blätter und Äste. Einige davon krabbeln. Die einzigen Hirnfunktionen, die zu dieser Stunde schon geöffnet haben, sind die Jesuiten, die das Grenzland zwischen Orgie und Kater bewohnen und aus den unschuldigsten Dingen Alpträume spinnen. Sie benennen, was hier gerade passiert: ein Zusammenprall von Welten. Jede für sich genommen vollständig, aber in keinerlei Beziehung zueinander. Eine Welt im Mercedes, eine gänzlich andere im Kiosk.
    Und dazwischen stehe ich mit meinen wachsenden Problemen.
    »Ich bitte dich«, höre ich Gerd quer durch die menschenleere Eingangshalle. »Wenn man sie erhitzt, sind sie noch vollkommen okay. Meine Mutter würde sie

Weitere Kostenlose Bücher