Das Buch Gabriel: Roman
auch in drei Tagen noch essen.«
»Sie muss es ja wissen, nachdem sie seit zwanzig Jahren tot ist.«
»Ach Gott. Warum bist du nur so schwierig?«
»Schwierig? Ich rechne nur aus, wie viel diese Bockwürste dann nächste Woche wert sind. Vielleicht können wir uns ja von den Einnahmen in Italien zur Ruhe setzen.«
»Jetzt sei doch mal realistisch: Nächsten Monat haben wir keine Arbeit mehr, wir müssen aus den letzten paar Tagen so viel wie möglich rausholen. Die Tage werden bestimmt gut fürs Geschäft, so kurz vor der Schließung, lauter Touristen und wer weiß was noch. Vielleicht können wir uns ein kleines Polster verdienen. Und ich verstehe nicht, warum wir unsere beste Ware an Gunnar verschenken sollen. Kriegen Polizisten etwa kein Gehalt? Ist das so eine Mafia-Abmachung? Jagt er den Kiosk in die Luft, wenn er nur eine Wiener bekommt?«
»Oho, der Würstchen-König! Kein Wunder, dass du es dir leisten kannst, in Urlaub zu fahren.«
»Ach, red doch nicht so. Ich wollte dir eine Freude machen, ein bisschen Abstand zu allem wird dir gut tun. Und ich dachte, dir gefällt Kühlungsborn? Ist vielleicht nicht Venedig, aber das Brauhaus ist doch so hübsch, wir können am Meer spazieren gehen und ein Bierchen trinken. Es wird nicht so einfach für uns werden, wenn der Monat rum ist, deswegen sollten wir ein bisschen das Leben genießen, solange der Kiosk noch Umsatz bringt. Das wird romantisch.«
Galle kriecht mir die Kehle hoch. Ich entscheide mich für das Wagnis, die Eingangshalle bis zu den Toiletten zu durchqueren. Aber schon bei meinem ersten Schritt wird Giselas Stimme ganz besonders sarkastisch, und ich weiche an die Wand zurück:
»Ach ja?«, spuckt sie. »Wie romantisch, mit Gottfried an der Ostsee. Der alten Zeiten wegen nehmen wir einen eigenen Stasi-Agenten mit, der uns überwacht.«
»Mein Gott, Gisela, pssst – ihm geht’s wirklich nicht gut. Er schläft ja nicht mit uns im Zimmer, wir nehmen ihn nur im Auto mit. Er sitzt doch sowieso den ganzen Tag mit einer Pulle und einer Jagdzeitschrift im Strandkorb, weißt du doch. Der Urlaub war dazu gedacht, dich aufzuheitern.«
»Wie du siehst, grinse ich wie ein Honigkuchenpferd.«
In Gerds Stimme schleicht sich ein Wimmern: »Es tut mir leid, dass nicht alles so rosig ist, wie du es dir vorgestellt hast. Aber schau doch mal: Du hast es doch bis hierhin geschafft. Das Leben ist doch noch nicht vorbei. Wir können immer noch etwas Neues anfangen. Ich hab hart dafür gearbeitet, damit alles da ist, was du brauchst. Aber das Leben ist eben kein Zuckerschlecken, Gisela! Es sind harte Zeiten für die arbeitende Bevölkerung!«
»Oh, der große Herr Arbeiter mit seiner Wurst-Investition. Ich habe fünfzehn Jahre damit verbracht, Würstchen heiß zu machen und Tassen abzuwaschen, und jetzt ist alles vorbei und mir bleibt nichts! Dir bleibt auch nichts. Noch nicht mal der Toaster, der Herd oder die Tassen.«
»Wir haben einen Kaffeeautomaten. Der war nicht billig.«
»Den Automaten hat mein Vater gekauft, Gerd!«
»Willst du jetzt mir die Schuld in die Schuhe schieben? Jedes Geschäft ist ein Risiko. So ist das eben. Ein Risiko! Glaubst du, ich habe das so geplant, dass wir am Ende mit nichts dastehen? Ist es meine Schuld, dass sie den Flughafen dichtmachen? Es hätte ja auch andersrum kommen können – der Senat hätte beschließen können, dass Tempelhof der größte Flughafen der Stadt wird, dann wären wir gemachte Leute gewesen.«
»Bist du jetzt zusätzlich auch noch blind geworden? Sieh dir die Bude hier doch mal an! Das ist ein Grab! Seit wann werden Leute denn in einem Grab reich? Wird man da nicht eher beerdigt?«
»Bah, also wirklich.«
»Also wirklich? Ich bitte dich! Auch ich bin ein Risiko eingegangen. Ich hätte hier schon längst raus sein können! Du wünschst dir, die Mauer würde noch stehen, dann würdest du dich bis heute dahinter im Osten verstecken! Und müsstest nirgendwo hinkommen im Leben! Du und Gottfried und all eure grauen Kumpane, ihr hättet einfach da bleiben und euch über alle anderen das Maul zerreißen können und niemandem beweisen müssen, dass ihr auch nur im Ansatz besser seid!«
»Jetzt fang nicht wieder mit den alten Zeiten an.«
»Mit den alten Zeiten? Das hier sind meine alten Zeiten! Das hier! Aber irgendwann waren es mal die neuen Zeiten, und ich hätte es fast hier raus geschafft und wäre weggeflogen, wie ein Vogel!«
»Bah!« Gerds Gesicht wird so lang wie seine Stimme tief. »Tja, und warum
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