Das Buch Gabriel: Roman
Cowboyjeansrock und hat ungefähr da, wo ihr Mund sein sollte, eine brutale, blutrote Schnittwunde. Ihre Erscheinung ruft in mir dieselbe Mischung aus Verwunderung und Abscheu hervor wie damals beim Sportfest der Anblick unserer Lehrer in Freizeitkleidung, als die Faszination darüber, wie ähnlich Lehrer echten Menschen werden können, sich mit der Abscheu darüber paarte, dass sie sich tatsächlich für solche hielten.
Niemand wendet sich zu mir um. Zugegen sind ein älteres, wahrscheinlich türkisches Paar, ein hoch aufgeschossener junger Mann mit einer großen Gassenjungen-Baskenmütze und der wächserne Monolith eines alten Mannes mit knolligen Gesichtszügen und Zigarre. Seine Augen sind faszinierend: hervorquellende, milchig blaue Murmeln, deren Blick starr auf den Kiosk geheftet ist. Sie müssen in der Lage sein, ohne jede Bewegung Nachrichten zu übermitteln, denn Gisela wirft ihren Kopf genervt zu dem Mann herum und gibt ihm ein Bier. Was ihn dazu veranlasst, die Unterlippe, völlig entkoppelt vom Rest seines riesigen Kopfes, grummelnd herabfallen zu lassen.
Im Zuge dieses Vorgangs entdeckt mich Gisela. Ich kann nicht behaupten, dass sie meine Anwesenheit würdigt oder mir gar so etwas wie Wärme entgegenbringt, aber sie legt auch keine offene Ablehnung an den Tag, was ich als kleinen Triumph werte. Ich trete näher, was das türkische Pärchen dazu bringt, aufzusehen und mir zuzunicken. Wir haben es also mit einem lose verbundenen Club zu tun – in Anbetracht der Erfordernisse dieses Abends zwar ziemlich trostlos, aber immerhin. Wenigstens hat dieser Club auch ein jüngeres Mitglied, und zwar eines mit Baskenmütze, was auf lebhaftere Vergnügungen deutet als eine Nacht am Kiosk. Außerdem ist es, wenn ich’s mir recht überlege, noch ziemlich früh für eine wahrhaft wahnwitzige Orgie. Kaum habe ich das gedacht, betritt eine noch jüngere Gestalt die Halle und kommt auf uns zu – eine zierliche junge Frau mit Jeans unterm Wollmantel und schwarzen Haaren, die sie zum Bob geschnitten trägt. Sie hat ein im Vergleich mit den anderen anwesenden Handtaschen 32 winziges Täschchen dabei, ihre Schritte sind kurz und schnell und federn mit einer fast eichhörnchenhaften Leichtigkeit. Es ist Anna. Reflexhaft werde ich rot, als könnte sie mir den Traum vom Nachmittag noch ansehen.
Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel, denn auch Klassenkameradinnen erscheinen beim Sportfest in einem neuen Licht. Ihr Gesicht grenzt trotz ihrer großen algengrünen Augen und der schmalen, wohlgeformten Lippen ans Unscheinbare, wird aber von einer Entschlossenheit gerettet, wie man sie bei gewissen Sechsjährigen findet, die stoisch in einer Schlange voller Erwachsener stehen. Dieser Eindruck von Zielstrebigkeit, hervorgerufen durch fehlende Schüchternheit und einen freimütig nach vorn gerichteten Blick, in Kombination mit dem Lipgloss, lässt sie in dieser Umgebung erscheinen wie ein Glühwürmchen in einer Höhle. Aber als ich mich gerade für diesen Ansatz von Potenzial erwärme und denke, dass jetzt gar nicht mehr viele wie sie kommen müssten, schon hätte man eine kleine Party beisammen, lächelt sie der Baskenmütze zu, beide winken dem Grüppchen – »tschüss«, flöten sie, » tschühüss! « – und verlassen das Gebäude.
»Einen schönen Abend«, ruft ihnen die türkische Frau nach. »Macht’s gut!«
Nachdem das Geflüster abgeklungen ist, das der Jugend immer folgt (»Wohin wird er sie wohl ausführen, mit Lyrik hat er doch sicher nichts am Hut?« – »Nein, sie nimmt ihn mit zu einer Ausstellung mit alten Flugblättern in der Karl-Liebknecht-Straße. Ich kann mir für einen Freitagabend auch was Besseres vorstellen, wahrscheinlich hat er es auf sie abgesehen.« – »Wie Seelenverwandte kommen mir die beiden aber nicht vor. Die Ärmste, immer so ernst, aber das ist bestimmt die Einsamkeit, deswegen ist sie so reserviert.«), bleiben nur der schnarrende Atem und das Kleiderrascheln zurück. Ein paar Minuten später trifft ein weiteres Paar ein, ebenfalls älter und mit dem Körperschwerpunkt in der Nähe des Brustbeins, und dann noch eins, kleiner, beide exakt gleich groß und gleich gebaut – wie Salz- und Pfefferstreuer – und beide mit Quadratschädeln.
Nach ihnen kommt ein dicklicher Mann. Ich mustere seinen kahl werdenden Kopf, seinen blonden, verglichen mit dem von Gerd ziemlich dürren Schnauzer und sein glänzendes Gesicht, und dem Unterfangen dieser Nacht wird endgültig der Todesstoß
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