Das Buch Gabriel: Roman
das reifere Alter seine Vorteile hat, und dieses Schwenken ist vielleicht einer davon, obwohl man mir das noch mal erklären müsste. 33
»Gabriel, das hier ist Dieter Strassmann.« Er stellt mir seinen Matrosenkollegen vor, dann beugt er sich zu uns und zischelt: »Heute Abend kümmern wir uns ein bisschen um Gottfried, nur, damit ihr euch nicht wundert … Er hat es im Moment nicht so einfach und keine echten Freunde. Deswegen sollte er mal wieder einen trinken, aber auch nicht zu viel, ihr versteht, was ich meine.« Sein Blick streift die einsame Gestalt. »Falls ihr ein Gespräch mit ihm anfangt, kann es sein, dass er euch zum Sozialismus bekehren will, das sage ich lieber gleich. Aber ansonsten ist er ein feiner Kerl, ein wirklich schlauer Bursche, ihr solltet sehen, was er in seiner Werkstatt alles baut.«
»Ha«, sagt Dieter, »rekrutiert der alte Gottfried also immer noch.«
»Pscht.« Gerd sieht ausdrücklich in die andere Richtung und fügt laut hinzu: »Und später probieren wir deinen Wein, ja? Toll. Ein australischer Wein, Dieter, von Gabriel. Und seht mal – das ist was ganz Besonderes.« Er zeigt auf den Nudelsalat, sucht Gisela, die im Hintergrund herumschleicht, und ruft: »Was ist das noch mal?«
»Italienisch«, ruft sie zurück.
»Italienisch«, sagt er stolz. »Gisela ist eine tolle Köchin.«
Flüssigkeit sammelt sich in Pfützen in der Salatschüssel. Das Keyboard gibt eine durch Mark und Bein gehende Begleitmusik aus Tubastößen, Klopfen, Quäken und Trommelwirbeln von sich.
»Hast du schon mal von Klaus und Klaus gehört?«, fragt Gerd. »Ein berühmtes Duo aus Hamburg.«
»Nee«, sagt Dieter missbilligend, »Klaus Baumgart kommt aus Oldenburg.«
»Ja, gut, aber als Duo kommen sie aus Hamburg. Oder warum sollten sie sonst in Seemannsanzügen stecken und über die Nordseeküste singen?«
»Oldenburg liegt bei Bremen. Was meinst du« – Dieter rollt mit den Augen und schüttelt seinen rotblonden, schütteren Schopf in meine Richtung – »welche Küste von dort aus am nächsten ist?«
»Eigentlich wollte ich dir erzählen, Gabriel, dass Dieter in Leipzig Mitglied einer bekannten Klaus-und-Klaus-Cover-Band war. Aber anscheinend ist er neuerdings auch Geographie-Professor.«
»Ja, ja«, ätzt Dieter, »als ob Bremen am andere Ende der Welt liegt.«
Eine freundliche ältere Dame am Nebentisch erbarmt sich meiner, räuspert sich und sagt: »Bremen ist ziemlich hübsch – Sie haben sicherlich schon mal von der Universität gehört? Die kennt man sogar in China. Bremen ist wirklich ein Zentrum für Spitzenforschung geworden.«
»Und Beck’s ist von da«, sagt ihr Mann. »Zwei Becks, und du fühlst dich Spitze.«
»Wie auch immer«, sagt Gerd. »Wir beide sind auf jeden Fall eine Klaus-und-Klaus-Cover-Band – Gerd und Gerd . Klingt glaubwürdiger als Dieter und Dieter , findest du nicht? Obwohl es uns immer zehn Minuten Auftrittszeit kostet zu erklären, warum auch Dieter Gerd heißt.«
»Und«, sagt Dieter, »wir kommen nicht aus Hamburg.«
Ein schwerfälliger Rhythmus setzt sich durch, mit links und rechts dröhnenden Tubas und Trommelwirbeln in der Mitte. Als ich zum Tisch zurückkehre, sehen mich sowohl Magda als auch Gisela komisch an. Ich merke, dass mein Gesicht vor Entsetzen verzerrt ist, als ob ich ein Hundebaby hätte sterben sehen. Ich glätte es und begebe mich wieder auf meinen Platz neben Gottfried. Als ich mich setze, grunzt er.
Dann widme ich mich der Aufgabe, so viel zu trinken, wie es nur geht.
Mit entsprechend ausdruckslosem Gesicht beobachte ich, wie sich im Terminal langsam ein Nimbus erhebt, der mir zusätzlich zu allem anderen auch noch ein philosophisches Problem beschert: Ist ein Nimbus der kleinen Freuden dem der hemmungslosesten Ausschweifung gleichwertig? Was unterscheidet uns, die wir in tödlichen Exzessen nach Drogen lechzen, von denen, die sich bei Tubageschmetter und Wein entspannen? Wer hat die größere Kontrolle über seinen Nimbus?
Um auch nur in die Nähe einer Antwort auf diese Frage zu kommen, sind mehr und wirksamere Rauschmittel vonnöten – oder haben Sie eine Antwort parat? Aber wie dem auch sei: Es ist unmöglich, in Gegenwart von Tubaklängen zu theoretisieren. Bald darauf setzt ein schwerfälliges Shanty ein, und die Matrosen erklären scherzhaft, warum Dieter auch Gerd heißt. Der Wein fließt, und bei »Da steht ein Pferd auf dem Flur« singen alle mit, bis das einst kolossalste Gebäude der Welt vor Heiterkeit bebt. Als ich
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