Das Buch Gabriel: Roman
mich umdrehe, sehe ich Gottfried sparsam schunkeln und mit grimmigem Gesicht tonlos die Worte mitsprechen. Ein Mann vom Sicherheitsdienst zieht sich einen Stuhl heran und nickt im Takt, Magdas zusammengekniffene Brauen wandern zwischen den Strophen nach oben, und sogar Giselas Stiefel tänzeln nach links und nach rechts, zweifelsohne, weil sie davon überzeugt sind, dass Freizeitvergnügen die Gesundheit genauso stark befördert wie Ginseng-Tee oder ein Einlauf.
Aber Nimbus ist Nimbus, und ich wehre mich dagegen, von diesem hier fortgerissen zu werden.
Ach, wie brutal die Enthusiasmen sind.
Dann macht die Musik eine Pause, in der Gerd mich auffordert, seinen Marius zu öffnen. Nur einige wenige Männer und Magda bekunden Interesse, ihn zu probieren – und von diesen bittet nur Gottfried um einen neuen Becher. Während ich einschenke, langt er nach der Flasche, um sie zu untersuchen, und beim ersten Schluck flattern seine Lider. Einen Augenblick lang scheint er wie erstarrt, und neben ihm erstarre auch ich; dann öffnet sich sein Blick wieder. »Sehr gut, danke schön.«
Und so vergeht der Abend, das Geplauder wird lauter und leiser, man bedient sich am Essen, bis nur noch Reste übrig sind, der Humor unverblümt wird und die Witze lahm werden. Mein Körper glüht vom Wein und prickelt vom Großteil meines letzten Gramms nasaler Freuden. Die Trunkenheit hat sich in die Gliedmaßen gesetzt und sie zu ungenau arbeitenden Werkzeugen gemacht, wohingegen mein Geist klar ist und von Stress widerhallt. Bei den anderen erreicht der Nimbus seinen Höhepunkt und verharrt dort eine Weile; nicht erhaben, sondern authentisch, als ob er, gleichsam wie das Leben, von der Traurigkeit darüber gestreift wurde, noch vor dem nächsten Tag sterben zu müssen. Mit dem Aufbruch des ersten Paares entsteht am Büffet ein Gedränge, ein Limbus umständlicher Verabschiedungsrituale. Aufgeregt wird darüber getuschelt, wer Gottfried nach Hause bringt oder ob er noch ein Würstchen braucht.
Und hier, treuer Freund, ziehe ich, der ich mich nach dem Tode sehne und mich frage, wo ich meine letzte Nachricht hinterlassen soll, den Vorhang vor diese Szene. So geht die Spezialparty des dekadenten Gerd Specht zu Ende. Sie und ich werden in weiten Teilen dasselbe denken, dem gibt es nichts hinzuzufügen. Und was sich als Nächstes ereignet, ist ohnehin viel interessanter.
Die Nacht selbst wartet mit einem überraschenden Endspiel auf.
»Dichter!« Gerd winkt mich zur Bühne. »Hilf mir doch mal, dann zeig ich dir was.«
Er klappt die Böcke zusammen und bittet mich, ihm mit dem Verstärker zu helfen. Dieter schnappt sich das Keyboard, und wir durchqueren die Haupthalle, vorbei an der Abfluganzeigentafel, die bei einem Flug nach Saarbrücken stehen geblieben ist, und erreichen ein Treppenhaus, wo die Stufen über drei Stockwerke nach unten zu einer Sicherheitstür führen. Hier, in den Eingeweiden des Monolithen, zieht Gerd einen Schlüsselbund hervor.
Mit einem Scheppern springt die Tür auf.
Vor uns erstreckt sich eine unterirdische Autobahn, neben der eine zwischen den Schienensträngen gepflasterte Eisenbahntrasse verläuft, die sich in der Entfernung hinter einer Kurve verliert. Schwankend stehe ich an der Tür und starre mir die Augen aus dem Kopf.
Ein Zittern nach dem anderen durchläuft mich.
»Siehst du«, sagt Gerd, »hier unten gibt’s mehr als fünf Kilometer Bunker und Tunnel, die im Dritten Reich gebaut wurden. Keine Ahnung, wo die hinführen. Es ist ein riesiger Komplex.«
Wir stellen das musikalische Equipment in einem Lagerraum beim Treppenhaus ab. Die Gedanken schießen mir durch den Kopf, und ich betrachte die Regale, um zu verarbeiten, was ich gesehen habe. Überall im Raum steht Kioskbedarf herum – Säcke mit Zucker, Plastikgabeln, ein paar Schrubber und Besen und eine Kiste, bedruckt mit chinesischen Schriftzeichen und Sternenexplosionen.
»Sieht nach Feuerwerkskörpern aus«, sage ich, weniger aus Interesse für die Kiste als um zu prüfen, ob meine Stimme noch funktioniert – das hier, dämmert es mir, muss der Komplex sein, den Thomas sich sichern wollte. Kilometerweise grandios düstere Unterwelt.
»Stimmt«, nickt Gerd. »Für die Abschiedsparty.«
»Raketen?«, fragt Dieter. »Kann ich ein paar haben, für Heides Geburtstag?«
»Die kann man nicht aufteilen, das ist eine zusammenhängende Pyrotechnik-Show.«
»Ach – wo man nur die Kiste anzünden muss?«
»Genau.« Gerd macht das Licht aus. »Ist in
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