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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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versetzt:
    Der Mann trägt einen Karnevalsmatrosenanzug.
    Außerdem hat er ein elektronisches Keyboard dabei, eins von der Sorte, die kleine Rhythmen und Akkorde von sich geben, wenn man Knöpfe drückt, auf denen »Samba«, »Bossanova«, »Quickstep« oder »Foxtrott« steht. An dem Keyboard hängt seine Matrosenmütze, deren Bänder auf dem Boden schleifen.
    Als Gerd hereinkommt, ist mir das Herz schon zu großen Teilen in die Hose gerutscht.
    An dieser Stelle, mein Freund, muss ich kurz unterbrechen, um die nun folgende Szene angemessen zu umreißen. Es wäre sinnlos, meinen sinkenden Mut und meine steil abfallende Fortüne-Kurve nur festzuhalten, denn die Beispiele dafür sind viel zu zahlreich und viel zu trostlos für Worte. Stattdessen folgt hier, da Sie meine Position ja kennen, einfach unkommentiert, was sich vor meinen Augen abspielt:
    Gerd betritt die Szenerie in einer zu kleinen Uniform eines Marineoffiziers, mit einem viel zu kleinen Mützchen, das wie eine Pastete schräg an seinem Kopf klebt. Das anerkennende Gemurmel der Truppe rund um den Kiosk kommentiert er mit einem Grinsen seiner langen, vergilbenden, borstenartigen Zähne.
    In Nationen und Gesellschaften, in Städten, Vierteln, Straßen und sogar einzelnen Wohnhäusern kann es manchmal passieren, dass menschliche Gruppen ein isoliertes Brackwasser bilden, in dem sich mit der Zeit eine eigene, gärende Flora und Fauna entwickelt. Genau das ist hier geschehen. Ich weiß plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass nichts von dem, was ich hier erleben werde, notwendigerweise in Deutschland, Berlin, Tempelhof oder irgendwo sonst im Siedlungsgebiet der Menschheit verbreitet ist; sehr viel wahrscheinlicher bin ich in einen kleinen, abgestandenen Tümpel jenseits der strömenden Gezeiten des Lebens gestolpert, wo ein herabfallender Tropfen ab und an ein Echo zeitigt, wo Gestalten lauern und Wärme im Wasser Argwohn schürt.
    »Frederick, du hast es geschafft! Haa – und sogar mit Schuhen!«
    Während Gisela den Kiosk abschließt, kommt Gerds Mütze die Stufen hinuntergehüpft – der Startschuss für unseren illustren Haufen, im Gänsemarsch hinter dem Kapitän durch die Abfertigungshalle zu marschieren, allerdings nicht zu einer unermesslich großen, säulenumstandenen Location, sondern zu einer kleinen Kantine in der abgelegensten Ecke des Terminals. Die Läden sind geschlossen, die Stühle sind mit den Beinen nach oben auf die Tische gestellt. An einer Wand steht aufgebockt ein Büffettisch: ein paar Flaschen billiger Wein, eine Schüssel Nudelsalat, eine Platte mit kaltem Wurstaufschnitt, ein Brötchenkorb, ein kleiner Turm Plastikbecher und ein Mülleimer.
    Gerd platziert mich neben dem Mann mit dem versteinerten Gesicht, den ich jetzt im Verdacht habe, bei meinem ersten Besuch hier derjenige gewesen zu sein, der den Boden wischte.
    »Gottfried Pietsch«, sagt Gerd zu mir, zu dem Mann sagt er: »Gabriel aus England.«
    »Aha«, grummelt Gottfried auf Deutsch. »Sieht aus wie ein Walross.«
    » Haa «, übersetzt Gerd, »Gottfried meint, du siehst aus wie ein Walross, ha, ha.«
    Ich sehe an meinen Mantel hinunter. »Hm – ha, ha.«
    Gottfried hat einen starken Körper- und Biergeruch und vermittelt den Eindruck, allein mit den Rändern seines Blickfelds schon die gesamte Welt wahrnehmen zu können. Als sie merkt, dass alle anderen Tische schon besetzt sind, gesellt sich noch eine fast kugelrunde, ältere Dame zu uns. Sie heißt Magda, und sie setzt sich auf die äußerste Kante eines Stuhls, wie eine pflichtbewusste Witwe, die ihrem Ehemann jahrzehntelang überall hin gefolgt ist, auch noch, nachdem ihr das volle Ausmaß seines entsetzlichen Charakters bewusst geworden ist, und die deswegen mittlerweile in der Lage ist, ihren Körper von einem Ort zum anderen zu befördern, ohne sich jeweils zu ihrer Anwesenheit bekennen zu müssen. Sie bleibt nicht und sie geht auch nicht, sie lächelt nicht, aber sie lächelt auch nicht nicht .
    Sie sieht mich nicht an und sieht mich auch nicht nicht an – es ist ihr wahrscheinlich einfach egal.
    Ich entschuldige mich und schütze Interesse an dem Keyboard vor. Als Gerd eine kleine Bühne aufbaut und zwischen den Händen Kabellängen abmisst, fällt mir ein entspannter Schwung in seinen Bewegungen auf, den er nicht trotz, sondern wegen seines Alters hat; sein Körper dreht und wölbt sich nicht mehr über die volle Länge, sondern schwenkt, eher wie ein Kran, nur noch aus dem Becken heraus. Anzunehmen, dass auch

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