Das Buch Ohne Gnade: Roman
im Autoradio mitsingt, schien er immer dann ein wenig zu nuscheln, wenn er den Text nicht mehr genau kannte.
Emily ging auf Zehenspitzen zum Bühnenrand, um besser sehen zu können, und hielt sich dabei hinter dem langen roten Vorhang, der zur Bühnenseite zurückgezogen war. Sie dachte, sie sei alleine, bis sie jemanden bemerkte, der sie von der Seitenbühne aus beobachtete. Er stand ungefähr einen Meter links von ihr vor einer Wand, die tiefschwarz gestrichen war. Sie hatte ihn nicht gesehen, bis sie ganz nahe bei ihm war, denn er verschmolz wie ein Chamäleon mit der dunklen Wand.
Sie erkannte in ihm den fremden Mann, den sie früher am Tag gesehen hatte, kurz bevor sie auf die Bühne gegangen war. Er trug immer noch die schwarze Lederjacke mit der dunklen Kapuze auf den Schultern. Das war nun wirklich jemand, der praktisch unbemerkt von einem Schatten zum anderen gleiten konnte. Aber obgleich sie ihn beunruhigend fand, nutzte Emily diese zweite Gelegenheit, diesen Fremden anzusprechen.
»Haben Sie ihm Ihre Sonnenbrille geliehen?«, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf den Blues Brother auf der Bühne.
Der Mann war so sehr darin vertieft gewesen, Jackos Auftritt zu verfolgen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie sich ihm näherte. Sein erster zorniger Blick deutete an, dass ihm ihr Annäherungsversuch höchst unwillkommen war, aber schon sein zweiter Blick fiel ein wenig sanfter aus, als er sie erkannte.
»Ja, er brauchte jede Hilfe, die er kriegen kann.«
»Die ersten Zeilen sind die schlimmsten. Doch dann wächst das Selbstvertrauen.«
»Stimmt.« In der rauen Stimme schwang tiefe Skepsis mit.
Emily hatte jedoch tatsächlich Recht. Obgleich er zögernd und stockend angefangen hatte, wurde Jacko mit jeder Zeile besser und mit jedem Wort, das er sang, lauter und selbstsicherer. Und als er zu der Mundharmonika-Passage kam, erstrahlte er geradezu. Der Junge konnte wirklich spielen. Plötzlich horchte das Publikum auf und begann mitzuklatschen.
»Ich hab’s doch gewusst«, meinte Emily. »Jetzt ist er ganz gut, nicht wahr?«
»Er ist besser als Sie, das ist schon mal sicher.«
Emily war bestürzt, und zwar sowohl über die unangebrachte Aggression in der Bemerkung als auch über ihre Grausamkeit. »Wie bitte?«, fragte sie betont ruhig.
»Sie waren scheiße. Warum gehen Sie nicht nach Hause? Sie werden niemals gewinnen.«
»Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie jeder andere.« Gegen ihren Willen wurde sie wütend, und eine leichte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus.
»Ihre Vorsingerei war reiner Schwindel«, fügte der dunkle Fremde hinzu.
Emily spürte, wie ihre Wangen sich intensiver röteten. Es war nicht sehr angenehm, hören zu müssen, wie jemand ziemlich laut aussprach, dass ihr Weg ins Finale vorbestimmt war. Für eine Sekunde zweifelte sie an ihrem Talent.
»ich weiß nicht, wovon Sie reden«, stotterte sie und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, sich diesem Gespräch zu entziehen.
»Das Finale ist manipuliert. Und falls Sie es nicht bemerkt haben sollten, drei der für das Finale Auserwählten sind verschwunden. Es scheint so, als gefiele jemandem nicht, dass betrogen wird. Warum tun Sie nicht allen Beteiligten einen Gefallen und verpissen sich verdammt noch mal zurück nach Kansas?« Er sah sie drohend an, wobei seine Augen ohne die Sonnenbrille noch beunruhigender erschienen. Sie glaubte nicht, dass drei ihrer Mitfinalisten verschwunden waren – das sagte er nur, um sie zu verunsichern.
Aber er hatte damit Erfolg. Emily schluckte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. Es war nicht sehr angenehm, wenn auf diese Weise mit einem gesprochen wurde. Was für ein Problem hatte dieser Kerl? Sie hatte ihm nichts Böses getan. Auf der Bühne war Jacko jetzt in seinem Element und brachte ein heißes Mundharmonikasolo, welches das gesamte Publikum von den Sitzen riss.
»Sie sind sehr unhöflich«, platzte sie heraus, ehe sie sich von dem dunkel gekleideten Fremden abwandte und nach rechts ging, wo sie sich in ihrer Verwirrtheit fast in den dunkelroten Vorhangfalten verhedderte.
Nach Standing Ovations der Zuschauer, die gut eine Minute dauerten, gaben die drei Juroren ihre Urteile ab. Die ersten beiden, Lucinda Brown und Candy Perez, äußerten wohlwollend positive Kommentare, die den Beifall des Publikums erhielten. Schließlich kam der Juror in dem grellweißen Anzug in der Mitte, Nigel Powell, an die Reihe. Er war der Juror, dessen Meinung am meisten zählte.
Weitere Kostenlose Bücher