Das Buch Rubyn
gemacht hast? Dein einziger Irrtum besteht darin, dass du dir einbildest, der wahre Hüter zu sein, Junge.« Der Wächter beugte sich vor. Er war wütend und riss an seinen Fesseln. »Die Chronik des Lebens knüpft ein Band zwischen dir und der Person, deren Name im Buch erscheint. Das Leben dieser Person – egal, wie schrecklich, wie düster, wie schmerzvoll es auch sein mag – wird zu deinem eigenen. Was sie fühlt, fühlst auch du. So ist es und so wird es immer sein.«
»Aber … das ist nicht gerecht!«, rief Michael. Ihm war klar, dass er sich kindisch benahm, aber er konnte nicht anders. »Das Buch Emerald bringt einen durch die Zeit. Warum kann nicht …«
Der Wächter lachte. »Das ist die Chronik des Lebens ! Und das Leben besteht aus Schmerzen! Der wahre Hüter muss in der Lage sein, den Schmerz der ganzen Welt auszuhalten. Ist dein Herz so stark, Junge? Ich glaube nicht. Du kannst ja kaum deinen eigenen Schmerz ertragen, geschweige denn den eines anderen. In dem Moment, als ich dich sah, sagte ich zu mir: Dieser Junge verkriecht sich vor dem Leben. Er tut alles, um dem Schmerz auszuweichen. Aber vor diesem Buch kann man nicht davonlaufen.« Der Wächter spuckte aus. Auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck abgrundtiefer Verachtung. »Du wolltest das Buch Rubyn haben, jetzt gehört es dir. Aber du bist nicht der wahre Hüter!«
Neben dem Bergfried entdeckte Michael ein Wasserfass. Er tauchte den Kopf hinein und schrubbte sich den festgebackenen Schlamm aus den Haaren. Als er es so sauber gewaschen hatte, wie es unter den Umständen möglich war, trocknete er sich das Gesicht mit seinem Hemd ab und lehnte sich an das Fass. Er atmete langsam und tief, ein und aus, ein und aus.
»Michael?«
Hastig setzte er sich die Brille auf und drehte sich um. Vor ihm stand Emma.
»Ich habe dich überall gesucht.«
»Entschuldige«, sagte er, »ich …«
»Bist du böse auf mich?«
»Was?«
»Ich dachte, du bist vielleicht böse auf mich. Du weißt schon, weil ich gestern Abend nicht auf dich gehört habe und auf die Lichtung gelaufen bin …«
»Natürlich nicht! Nein. Wie kommst du darauf?«
Wasser tropfte aus seinen Haaren auf seine Brillengläser, aber Michael konnte Emma gut erkennen, mit ihrem schlammverkrusteten Haar und dem schmutzigen Gesicht. Sie wirkte so klein und unsicher.
»Na ja, du sahst nicht besonders glücklich aus, als ich wieder wach war, und dann bist du einfach weggelaufen und … und … ich kann einfach nicht glauben, was du alles getan hast!« In ihren Augen glänzten Tränen. »Du hast gegen einen Drachen gekämpft – meinetwegen! Ich habe das vorhin nicht sagen wollen, weil es dieses Elfenmädchen nichts angeht, aber ich werde dir niemals, nie im Leben vergessen, was du für mich getan hast. Und wenn du böse bist …«
»Emma, ich bin dir nicht böse. Ich wollte nur …« Er wusste, dass er irgendetwas sagen musste, und er entschied sich für die Wahrheit, zumindest für einen Teil davon. »Ich hatte Angst. Es tut mir leid.«
Emma schluchzte erleichtert auf und warf sich in seine Arme. Mit aller Kraft drückte sie ihn an sich. »Mir tut es auch leid. Ich hätte auf dich hören sollen.« Sie standen eine ganze Zeit lang eng umschlungen da, und Michael, der sich gerade wieder halbwegs zusammengerissen hatte, glaubte, erneut zu zerbrechen. Sei stark , befahl er sich. Du musst stark sein.
Endlich ließ Emma ihn wieder los und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Nicht weggehen, hörst du?«
Sie huschte an ihm vorbei, beugte sich über den Rand des Wasserfasses und wusch sich die Haare in dem nun leicht bräunlichen Wasser. Die Vormittagssonne war hell und warm. Michaels eigene Haare waren schon fast wieder trocken. Er schwor sich, die Chronik des Lebens nie wieder zu benutzen. Es reichte, wenn er sie vor dem grässlichen Magnus versteckt hielt.
Als Emma fertig war, schüttelte sie den Kopf, und die Wassertropfen flogen in alle Richtungen.
»He, Michael.«
»Ja?«
»Darf ich das Buch mal sehen?«
Michael zögerte nur eine Sekunde. Dann ging er zu seiner Tasche und zog die Chronik heraus, die er neben das Zwergenhandbuch gesteckt hatte. Emma blätterte das Buch Rubyn durch.
»Wo steht mein Name? Ich dachte, du hättest meinen Namen aufgeschrieben.«
»Er ist verschwunden.«
»Und du hast wirklich mit deinem Blut geschrieben?«
»Ja.«
»Wie eklig. Und ist das der Stift?«
»Der Griffel.«
»Oh.«
Emma fuhr mit der Hand über das eingravierte
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