Das Buch Rubyn
das war unmöglich, sie hatten keine Chance …
»Schneller!«, schrie Rafe.
Die ersten, mit Schneekappen besetzten Wagen ratterten bereits vorbei.
»Wir können nicht! Die Bahn fährt zu schnell Wir …«
»Spring einfach!«
Dann hatten sie das Ende des Blocks erreicht. Der feste Boden unter ihren Füßen hörte einfach auf. In ihrem Genick hörte sie das Atemgeräusch eines Gnoms, und Rafes Hand fest mit ihren Fingern umklammernd, sprang sie.
Der Abgrund war breiter, als sie gedacht hatte. Es lagen fast zweieinhalb Meter zwischen dem Dach des Gebäudes und der Bahn. Einen Moment lang sausten sie im freien Fall dahin. Kate sah die Tram unter sich hinwegziehen, und hatte Angst, dass sie zwischen den Wagen landen, auf die Gleise fallen und zerquetscht werden würden. Stattdessen schlugen sie mitten auf einem Wagendach auf. Ihre Füße rutschten weg, die Hand des Jungen wurde ihr aus den Fingern gerissen, sie kam hart mit der Hüfte auf und kullerte, von der Wucht des Sturzes getrieben, über den gewölbten Rand des Wagendachs. Zappelnd gelang es ihr, sich an der Kante des Dachs festzuklammern, und so hing sie mitten in der Luft, während die Tram über die Überführung ratterte.
Sie hörte ein schweres Aufklatschen auf einem Wagendach und wusste, dass mindestens ein Gnom ihnen nachgesprungen war. Kate war sich klar darüber, dass sie etwas unternehmen musste, sich hochziehen oder ein Fenster einschlagen, irgendetwas, aber nicht einfach hier hängen. In dem Moment bog die Tram um eine Ecke und Kates eine Hand rutschte ab. Ihr Körper wurde durch die Fliehkraft nach außen getragen und hing nur noch an vier Fingern am Dach. Sie sah unter sich die Straße, die Wagen, die Pferde und die Menschen. Dann fuhr die Bahn wieder geradeaus, und sie schwang zurück und prallte mit voller Wucht gegen die Seite des Waggons. Sie schaute auf und sah Rafe und den Gnom auf dem Wagendach miteinander ringen. Wieder bog die Straßenbahn um eine Kurve, und ein Finger nach dem anderen löste sich. Dann fiel etwas Dunkles, Schweres an ihr vorbei, und im nächsten Moment packte sie jemand am Handgelenk und zog sie hoch.
»Alles klar?«, fragte Rafe. »Bist du verletzt?«
Kate schüttelte den Kopf. Sie war immer noch völlig durcheinander. Sie waren allein auf dem Wagendach. Rafe kniete sich vor sie hin, seine Hände auf ihren Armen. Eine Weile kauerten beide einfach nur da, bis sich ihre hämmernden Herzen beruhigten.
»Scruggs hat mich mit einem Blendzauber belegt, damit ich ins Haus gelangen konnte. Deshalb sah ich anfangs so aus wie Rourke. Aber die Sache mit der Flucht hatte ich mir nicht so richtig überlegt.«
Kate fing an zu zittern und konnte nicht mehr aufhören.
»Warum … warum hast du mich gerettet?« Ihr Haar hatte sich gelöst und wehte wie eine seidige Fahne im Fahrtwind. Sie musste schreien, um über das Rattern und Rumpeln der Bahn hinweg gehört zu werden. »Warum hast du das getan?«
Schneeflocken umtanzten sie. Gebäude zogen rechts und links vorbei. Der Junge schaute sie an. Die Lichter der vorbeihuschenden Fenster blitzten auf seinem Gesicht auf. Er zog seine Jacke aus und legte sie Kate über die Schultern.
»Ich werd’s dir sagen«, versprach er, »wenn wir in Sicherheit sind.«
Kate und Rafe fuhren auf dem Wagendach bis in die Innenstadt. In der Nähe der Bowery kletterten sie herunter. Rafe wollte nicht gleich zur Kirche zurückkehren, für den Fall, dass die Gnome ihnen folgten. Kate widersprach nicht, aber ihre Hände waren zu Eisklumpen gefroren und ihre Stirn und ihre Ohren schmerzten vor Kälte.
Während der Fahrt hatten sie geschwiegen. Es wäre zu mühsam gewesen, sich über das Getöse der Bahn, das Rattern der Wagen und das Quietschen der Bremsen Gehör zu verschaffen. Außerdem hätte Kate nicht gewusst, was sie sagen sollte. Jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, musste sie unentwegt daran denken, was sie erfahren hatte und was ihr Wissen bedeutete. War Rafe ihr Feind? Wie viel wusste er? Und was sollte sie bloß tun? Scruggs hatte behauptet, das Buch Emerald hätte sie aus einem bestimmten Grund hierher geführt, aber aus welchem? Sie war verwirrt und wünschte sich, ihre Gedanken ausschalten zu können. Aber jedes Mal, wenn sie Rafe in die Augen blickte, wurde sie wieder an die milchigen Augen des grässlichen Magnus erinnert, die in jenem letzten Moment smaragdgrün geleuchtet hatten. Und schon wirbelten ihre Gedanken wieder durcheinander.
Als sie vom Wagen geklettert waren,
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