Das Buch Rubyn
dieser haarige, stinkige Kerl hat mich mit einer Nadel gepikst, und dann bin ich aufgewacht und ihr wart alle da.«
Sie befanden sich nach wie vor im Quartier des Wächters. Emma hatte gerade erfahren, was geschehen war, während sie eingefroren war. Michael hatte nur wenig gesprochen; das meiste hatte Emma von Gabriel und Wilamena erfahren.
»Das Häschen war wirklich außerordentlich tapfer«, hatte Wilamena abschließend erklärt.
»Was für ein Häschen? Gibt’s hier ein Häschen?«
»Sie meint mich«, bemerkte Michael düster.
»Er war bereit, sein Leben für dich zu opfern. Stell dir vor: ein kleines Häschen wie er, das sich gegen einen Drachen erhebt, nur mit einem winzigen Zwergenmesser in der Hand.«
Michael merkte, wie alle ihn anstarrten. Hastig bat er Emma, ihre Geschichte zu erzählen. Als sie damit fertig war, verkündete Gabriel, dass es Zeit war aufzubrechen.
»Es ist ein weiter Weg zurück zum Flugzeug, und wir müssen uns beeilen, wenn wir vor Einbruch der Nacht dort sein wollen. Aber mit leerem Magen können wir nicht loslaufen. Gibt es Vorräte hier in der Festung?«
»Oh ja«, sagte die Elfenprinzessin. »Ich zeige sie euch.«
Michael sah die Gelegenheit gekommen, um sich von den anderen zurückzuziehen. Er erklärte, dass er sich den Schlamm aus den Haaren waschen wolle, während sich Gabriel und Wilamena um das Essen kümmerten. Dann machte er sich eilig davon.
Michael ging geradewegs in den Bergfried. Lichtspeere fielen auf den Boden des Saals. Der Wächter war an eine Säule gekettet, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, das Kinn auf der Brust. Michael blieb ein Stück vor ihm stehen. Er zitterte. Er hatte sich zusammenreißen müssen, seit er Emma wiedererweckt hatte und nur darauf gewartet, herkommen zu können.
»Sie müssen …« Er versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Sie müssen mir erklären, wie die Chronik funktioniert. Prinzessin Wilamena wollte es mir beibringen, aber … vermutlich wusste sie nicht alles oder sie hat es vergessen. Bitte sagen Sie mir, was ich falsch mache. Sie wissen es, da bin ich mir sicher!«
Langsam hob der Mann seinen Kopf und schaute Michael an.
Er wirkte noch heruntergekommener und elender als zuvor. Seine Augen waren gerötet, das Haar mit Blut verkrustet und sein Waffenrock war an der Schulter zerrissen.«
Aber bei Michaels Anblick lächelte er. »Also hast du die Chronik benutzt, um deine Schwester zu erlösen. Was ist passiert? Ich will alle Einzelheiten hören.«
»Sagen Sie mir bloß, wie ich das Buch richtig einsetzen kann. Ich muss es wissen. Bitte.«
»Du willst es mir nicht erzählen? Also schön. Ich weiß es auch so: Einen Moment lang warst du eins mit deiner Schwester. Ihr Herz war dein Herz. Alles, was sie jemals gefühlt hat, fühltest du. Und ich vermute, dass es dir nicht gefallen hat, stimmt’s?«
Sein Ton war schadenfroh, und was er beschrieb, war genau das, was Michael erlebt hatte. Er hatte gefühlt, wie sich die Macht des Buches erhob, aber er war zu fasziniert gewesen, zu verzaubert, um zu bemerken, was geschah. Und als er es schließlich merkte, war es zu spät. Wie ein Schwimmer, der sich in eine starke Strömung verirrt hat und nur zusehen kann, wie das Ufer immer weiter entschwindet, war auch Michael in einem tiefen, endlosen Ozean davongetrieben.
Oder besser gesagt: Er war zu Emma getrieben. Genau so, wie der Wächter es darstellte, hatte sich ihr Leben für ihn geöffnet. Nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Herz. Er hatte verstanden, wie es war, als Jüngste von drei Geschwistern aufzuwachsen, ohne jegliche Erinnerung an die Eltern, ohne eine Erinnerung an ein Leben vor den zahllosen Waisenhäusern, an eine Familie. Ihm war klar geworden, dass er und Kate Emmas ganze Welt waren, dass Emma, die tapferste Person, die er kannte, vollständig von der Angst aufgefressen wurde, dass sie ihren Bruder und ihre Schwester verlieren könnte und ganz allein zurückbleiben würde. Und Michael hatte gespürt, dass die zerbrechlichen Fundamente ihrer Welt in sich zusammengefallen waren, als er sie und Kate an die Gräfin verraten hatte. Er hatte verstanden, wie schwer es ihr gefallen war, ihm zu vergeben, ihm wieder zu vertrauen, und dass die sichere Gewissheit, ihr Bruder und ihre Schwester würden immer für sie da sein, unwiderbringlich verloren war.
»Sagen Sie’s mir, bitte«, flehte er und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Was habe ich falsch gemacht?«
»Was du falsch
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