Das Buch Rubyn
Rafe deutete auf etwas.
»Siehst du das Gebäude gegenüber? Das Fenster im dritten Stock, ganz links. Warte, gleich geht das Licht an.«
Kate wartete. Es war kalt auf dem Dach und sie fühlte die Schulter des Jungen an ihrer eigenen.
»Da«, sagte er leise. Kate hörte, wie er den angehaltenen Atem ausstieß. Sie sah Licht in dem Fenster und eine alte Frau, die in der Wohnung herumging.
»Da haben meine Mutter und ich gelebt. Wir sind dort eingezogen, eine Woche, nachdem wir nach New York gekommen waren. Ich war noch ein Baby und mein Vater bereits gestorben. Deshalb sind wir hierher gekommen. Sie hat unseren Lebensunterhalt als Seherin verdient.«
»Was ist eine Seherin?«, fragte Kate. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und tief in die Taschen des Mantels gestopft. Sie wandte den Kopf und blickte ihn an. Rafes Augen funkelten im Schein der Straßenlaternen. Der Rest seines Gesichts lag im Schatten.
»Sie konnte Dinge sehen, die nicht da waren. Sie nahm eine Schale mit Wasser, goss etwas Öl hinein, und dann sah sie, was immer man zu sehen wünschte, egal, wie weit entfernt es war. Die Leute bezahlten sie, damit sie ihnen Dinge zeigte. Manchmal war es ein kostbarer Gegenstand, den sie verlegt oder verloren hatten, ein Ring oder eine Uhr. Aber häufiger kamen Menschen zu ihr, die gerade nach New York gekommen waren und die ihre Lieben in der alten Heimat sehen wollten, ihre Eltern oder ihre Geschwister. Manchmal kamen auch Eltern, die ihre Kinder zurücklassen mussten und sie aufwachsen sehen wollten. Meine Mutter zeigte es ihnen. Sie tat es für jeden, für magische Wesen und normale Menschen. Und alle liebten sie deswegen. Unsere Wohnung bestand nur aus einem Raum. Ich war immer da, hinter einer Decke, die mein Bett verbarg, und ich sah sie alle, die Männer und Frauen, die weinten und sie umarmten. Sie hat niemals viel Geld verlangt, nur so viel, dass wir davon leben konnten.«
»Wer wohnt jetzt dort?«
»Niemand. Ich selbst bezahle die Miete. Die alte Frau wohnt einen Stock tiefer. Sie geht jeden Abend nach oben und schaltet das Licht ein.«
Und du kommst her und schaust durch das Fenster, dachte Kate, und stellst dir vor, deine Mutter wäre noch am Leben.
Dann sagte er noch einmal, diesmal ganz leise: »Alle liebten sie.«
Kate wusste, dass er von sich selbst sprach.
Beide schwiegen. Kate spürte, dass der Junge sich sammelte, um ihr seine Geschichte zu erzählen. Sie wollte ihn nicht drängen. Dann begann er unvermittelt zu sprechen.
»Eines Abends kam ein Mann in unsere Wohnung. Er sagte, er wolle seine Frau sehen. Ich weiß noch, dass er sein ganzes Geld auf den Tisch warf. Er war betrunken und beschimpfte seine Frau. Zeig sie mir! , verlangte er von meiner Mutter. Sie versteckt sich! Zeig sie mir!
Ich saß hinter der Decke auf meinem Bett und schaute zu, wie meine Mutter die Schale holte, das Öl hineingoss und eine Kerze anzündete. Und dann sagte sie dem Mann, sie bräuchte etwas von seiner Frau, eine Haarlocke oder etwas, das ihr gehörte. Der Mann lachte, griff in seine Tasche und warf einen Silberring auf den Tisch. Es war ein Ehering. Ich sah, wie meine Mutter ihn nahm und ganz still wurde. Richtig still, weißt du? Sie legte den Ring in die Schale und ich sah, wie sie etwas flüsterte und sich konzentrierte. Der Mann atmete schwer und laut. Und dann fing er an, Fragen zu stellen: Was sehen Sie? Wo ist sie? Wo versteckt sie sich? Meine Mutter schwieg lange Zeit. Dann schaute sie von der Schale auf und fragte: Haben Sie ihr das angetan? Der Mann fing an zu fluchen, nannte sie magischen Abschaum und meinte, es ginge sie nichts an, und wenn sie nicht wollte, dass er dasselbe mit ihr anstellte, sollte sie ihm sagen, wo seine Frau war. Meine Mutter nahm die Schale mit Wasser, schüttete sie zu seinen Füßen aus und befahl ihm zu verschwinden.«
Rafe verstummte. Sein Blick war immer noch auf das erleuchtete Fenster gegenüber gerichtet.
»Er schlug sie zu Boden. Ich stürzte hinter der Decke hervor, schrie den Mann an und prügelte auf ihn ein. Ich hörte, wie meine Mutter schrie, ich solle mich verstecken. Dann schlug mich der Mann, und mein Kopf prallte gegen die Wand, und alles wurde schwarz. Als ich aufwachte, war es ganz still. Ich lag auf dem Boden neben meiner Mutter. Sie war tot.«
Kate starrte den Jungen fassungslos an. Sie konnte nicht glauben, was er durchgemacht hatte. Es war, als würde ihr das Herz brechen bei dem Gedanken an seinen Schmerz. Rafe sprach weiter; noch war
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