Das Buch Rubyn
hob Michael die Chronik des Lebens vom Boden auf, zog seine Stiefel an, blickte sich instinktiv nach seiner Tasche um und erinnerte sich dann, dass sie in den Krater gefallen war. Seufzend ging er nach draußen.
Es war in der Tat ein herrlicher Tag. Die Sonne schien warm und eine leichte Brise säuselte durch das Laub. Das Mahl war einfach: Nüsse, Beeren, Sahne, Honig, ein Tee aus Blütenblättern. Doch solche Beeren hatte Michael noch nie gesehen: Erdbeeren, so groß wie Äpfel, Heidelbeeren, so dick und tiefblau, dass man sie für Pflaumen hätte halten können, riesige Himbeeren, prall und saftig …
»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich bediene, nicht wahr?«, sagte der Zauberer, nahm sich eine der Mammut-Erdbeeren und tunkte sie in Sahne. »Oh, wie köstlich!«
Michael sagte nichts. Er schob sich ganze Hände voll Mandeln und Walnüsse in den Mund. Seit Gabriels Eintopf am Vortag hatte er nichts mehr gegessen. Eine Weile vergaß er alles andere und konzentrierte sich ganz darauf, seinen knurrenden Magen zu besänftigen. Die Beeren färbten seine Finger, Lippen und Zähne bläulich lila. Und erst als der Zauberer ihm Tee einschenkte – der erste Schluck schmeckte nach Sonnenlicht, und eine goldene Wärme breitete sich in seinem noch immer erschöpften Körper aus –, fing Michael an, langsamer und genussvoller zu essen.
Der Ast, auf dem Michael und der Zauberer saßen, war etwa dreieinhalb Meter breit und ganz flach. Als Michael über die Kante spähte, sah er den Waldboden etwa dreißig Meter unter sich, halb verborgen im Schatten der hohen Bäume. Bei näherem Hinschauen erkannte er andere Räume wie den, in dem er aufgewacht war. Sie befanden sich überall in den Bäumen und waren durch Leitern und Treppen miteinander verbunden, die an den mächtigen Stämmen hinauf- und hinabführten. Aber was Michael am meisten erstaunte und ihn wünschen ließ, er hätte seine Kamera und sein Tagebuch nicht verloren, war der Umstand, dass die Äste eines jeden Baums weit hinausragten und mit den Ästen anderer Bäume zusammenwuchsen, wodurch ein riesiges Netzwerk aus Pfaden entstand, auf dem die Elfen von einem Baum zum anderen gelangen konnten. Es war wie eine eigene Stadt, hoch in den sonnendurchfluteten Wipfeln des Waldes.
Er drehte sich wieder um und sah, dass der Zauberer ihn aufmerksam betrachtete.
»Was ist? Habe ich irgendwas am Mund kleben?«
»Oh ja, eine ganze Menge. Aber das ist es nicht. Ich musste über dich nachdenken, über den Jungen, den ich kannte und den, der in den vergangenen Tagen solch erstaunliche Dinge fertiggebracht hat. Deine Schwester und Prinzessin Wilamena haben mir alles erzählt. Ich bin sehr stolz auf dich, Michael. Und ich hoffe, auch du bist stolz auf dich.«
Michael dachte darüber nach. Früher hätte er dem Zauberer großspurig versichert, dass es keine große Sache gewesen sei, obwohl er insgeheim natürlich vom Gegenteil überzeugt gewesen wäre und auch davon, dass niemand die Situation so gut hätte meistern können wie er. Aber das war vorbei. Er dachte an den Wächter und seine Brüder, an die vielen, vielen Jahre, die er das Buch beschützt hatte. Er dachte an Wilamena und die Elfen, die ihr Leben für ihn und seine Schwester riskiert hatten. Und er dachte an Emma, die im Krater des Vulkans bei ihm geblieben war, während Gabriel um sein Leben kämpfte …
Dann schaute er den Zauberer ernst an und sagte: »Ich hatte jede Menge Hilfe.«
»Das stimmt. Aber trotzdem ist es dir gelungen, eine der Chroniken vom Anbeginn in Sicherheit zu bringen. Du hast einem Volk ihre Prinzessin wiedergegeben. Und du hast deine Schwester durch Feuer und Krieg in Sicherheit gebracht. Durch Cleverness, Mut und einen kühlen Kopf. Ehre, wem Ehre gebührt, mein Junge. Es ist nur recht und billig, dass du der Hüter der Chronik des Lebens bist.«
»Dr. Pym, bevor Sie noch mehr über diese Sache mit dem Hüter sagen …«
»Und wie passend«, fuhr der Zauberer fort, als ob er Michael gar nicht gehört hätte, »dass morgen dein dreizehnter Geburtstag ist. Du wirst erwachsen!«
»Was …?« Michael keuchte auf.
»Alles in Ordnung, mein Junge?«
Entgeistert und überrascht hatte Michael tief Luft geholt und dabei vergessen, dass er eine Heidelbeere von der Größe eines Vogeleis im Mund hatte. Er keuchte und hustete, bis er die Beere glücklich wieder ausgespuckt hatte. Dann krächzte er: »Was?«
»Sag bloß nicht, du hast deinen eigenen Geburtstag vergessen!«
»Ich … ähm,
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