Das Buch Rubyn
führte, von dem aus ein breiter, flacher Ast bis zur nächsten Baumkrone reichte.
»Ist das hier …? Bin ich … in einem Baum?«
»Ganz richtig, mein Junge. Du bist bei den Elfen des Tals und dieses Volk lebt in den Bäumen. Ich hoffe, du hast keine Höhenangst. Aber was sage ich denn! Meine Güte – du bist auf dem Rücken eines Drachen hierher gekommen!«
Bei diesen Worten kehrten die Ereignisse der letzten Nacht in Michaels Gedächtnis zurück. Er erinnerte sich an den Flug, an das Brausen des Windes, die Hitze, die der Drache verströmte, das kraftvolle Schlagen der Flügel. Er erinnerte sich an Gabriel, den er aufrecht gehalten hatte, als seine eigene Kraft schwand, an Emma, die um Hilfe rief, die näher kommenden Baumwipfel, als der Drache zur Landung ansetzte. Dann war er von Gesang umgeben, während sanfte Hände ihm vom Rücken des Drachen halfen.
»War ich ohnmächtig?«
»Die Elfen merkten, dass du sehr schwach warst. Ihr Lied hat dich in den Schlaf gewiegt.«
»Aber wo ist Emma? Und Gabriel …?«
»Sie sind beide hier und werden gut versorgt. Emma hatte nur ein paar Schnitte und blaue Flecken und kleinere Brandwunden an den Händen. Gabriels Wunden waren schlimm, aber die Ärzte der Elfen sind Meister ihrer Kunst. Er ist außer Lebensgefahr.«
»Aber ich hätte ihn heilen können! Mit der Chronik …«
»Ein großherziges Angebot. Aber die Macht des Buches zu benutzen, sollte immer nur der letzte Ausweg sein. Schlaf und Erholung werden Gabriel heilen. Oh, und falls du dich fragen solltest, wo die Chronik ist: Das Buch liegt neben dir.«
Michael beugte sich über die Bettkante, und da, neben dem Bett, lag das Buch Rubyn. Er hatte sich so an die Anziehungskraft der Chronik gewöhnt, dass ihm erst jetzt, da er sie sah, das Ziehen in seiner Brust gewahr wurde. Insgeheim war er erleichtert, Gabriel nicht heilen zu müssen. Wenn es nach ihm ginge, wäre es in Ordnung, die Chronik nie wieder anrühren zu müssen.
»Du kannst es aufheben, wenn du möchtest«, sagte der alte Zauberer und beobachtete ihn aufmerksam.
»Danke, Sir, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Ich muss Sie etwas fragen: Was ist mit Prinzessin Wilamena? Ist sie immer noch ein Drache, oder …?«
»Die Prinzessin hat ihre normale, liebliche Gestalt wieder angenommen. Und ich darf dir versichern«, fügte er mit einem Anflug seines alten, amüsierten Lächelns hinzu, »dass du in ihr wahrhaftig eine Bewunderin hast.«
»Na, da bin ich aber froh. Ähm, ich meine, dass sie wieder sie selbst ist. Hören Sie, Dr. Pym, ich muss mit Ihnen über die Chronik reden …«
Der Zauberer hob die Hand. »Mir ist klar, dass du viele Fragen hast, aber ich habe auch einige an dich. Erst aber solltest du etwas frühstücken.«
Auf dem Ast vor der Öffnung näherte sich ein Elf mit einem Tablett, auf dem Becher, Schalen und ein winziger Porzellankessel angerichtet waren. Der Elf trug grüne Beinkleider, lange weiße Strümpfe, schwarze Schuhe mit strahlend goldenen Schnallen und eine eng sitzende, hochgeschlossene, kurze grüne Jacke mit Brokatverzierungen.
Du meine Güte , dachte Michael, das muss ja ewig dauern, bis sich ein Elf angekleidet hat!
Dann dachte er an die Elfen, die in ihre Umhänge gewickelt im Innenhof der Festung gelegen hatten, und er schämte sich. Vergiss niemals, was sie für dich getan haben , ermahnte er sich.
»Danke«, sagte der Zauberer zu dem Elf. »Wir werden draußen speisen.«
Auf dem breiten Ast vor dem Schlafgemach waren ein niedriger Tisch und große, weiche Kissen vorbereitet worden. Der Elf nahm sich Zeit, um sorgfältig den Tisch zu decken, dann klopfte er die Kissen auf und verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung.
»Hast du Hunger?«, fragte der Zauberer. »Wenn wir gegessen haben, können wir weiterreden. Deine Kleider liegen am Fußende des Bettes.«
Der Zauberer verließ das Gemach und Michael zog sich an. Seine Kleider waren in der Nacht gesäubert und ausgebessert worden. Oben auf dem Kleiderstapel lag die blaugraue Glaskugel an ihrem Lederband. Beim Anziehen bemerkte er verwundert, dass die Brandwunden, die Schnitte und Prellungen an seinem Körper verschwunden waren. Er bewegte seine Füße und fühlte keine Schmerzen mehr in den verstauchten Knöcheln. Es sah ganz so aus, als hätten die Elfenärzte auch bei ihm ausgezeichnete Arbeit geleistet.
»Beeil dich, mein Junge!«, rief ihm der Zauberer zu. »Es ist ein so schöner Tag! Oh, und bring doch bitte das Buch mit.«
Widerstrebend
Weitere Kostenlose Bücher