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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
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runter.«
    Kate trat von der Kante zurück. »Was für ein Datum ist heute?«
    »Wir ham Dezember. Den Tag weiß ich nich.«
    »Ich meine, was für ein Jahr?«
    »Machst du Witze?«
    »Sag’s mir einfach.«
    »Wir ham 1899«, sagte der andere Junge. »Wie kommt’s, dass du das nich weißt?«
    Kate gab keine Antwort. Sie schaute nur hinaus auf die schneeweißen Dächer der Stadt. Ihr war kalt, sie fühlte sich allein und sie war im Jahr 1899 gefangen. Wie sollte sie jemals wieder heimkommen?
    Die Jungen, die auf die Namen Jake und Beetle hörten, erklärten ihr, dass sie nun, da sie ja – leider – mehr oder weniger am Leben war, ihnen folgen und mit einem gewissen Rafe reden müsse. Kate hatte keine Ahnung, wer dieser Rafe war, und auch nicht die Absicht, sich zu ihm schleppen zu lassen. Das sagte sie den beiden Jungen. Sie musste jetzt vor allen Dingen einen Weg finden, wie sie zu ihrem Bruder und ihrer Schwester zurückkehren konnte. Aber das sagte sie nicht.
    »Wo geht’s hier runter?«
    »Du kannst nich einfach so weglaufen«, meinte Beetles. »Da draußen holst du dir den Tod.«
    Da hatte er allerdings recht. Während er und sein Freund jeweils zwei Jacken übereinander trugen, darunter mehrere Hemden und eine dicke Wollhose – alle Kleidungsstücke waren mehrfach geflickt, aber nichtsdestotrotz warm –, hatte Kate nur alte Sandalen und ein ärmelloses Sommerkleid an. Schon jetzt zitterte sie vor Kälte. Außerdem, so bemerkte sie, klebte überall an ihr getrockneter Schlamm.
    »Na schön. W…wo«, setzte sie mit klappernden Zähnen an, »w…wo bekomme ich einen Mantel her?«
    »Drüben auf der Bowery.«
    »Ich dachte, ich wäre in der Bowery.«
    »Ich mein doch die Straße. Komm mit.«
    Die Jungen brachten sie zur Feuerleiter, einem wackeligen, verrosteten Skelett, das notdürftig an der Seite des Gebäudes befestigt war. Die beiden sausten sorglos nach unten und brachten das Gerüst zum Erbeben. Kate eilte ihnen nach, wobei sie sicher war, dass sich das Gestänge jeden Moment aus der maroden Verankerung lösen und nach unten auf die Straße stürzen würde. Die Leiter endete etwa zweieinhalb Meter oberhalb des Erdbodens und die beiden Jungen hängten sich an die unterste Sprosse und ließen sich dann fallen. Sie landeten auf allen vieren. Kate wollte es ihnen gleichtun, aber als sie an der Sprosse hing, konnte sie einfach nicht loslassen.
    »Mach schon!«, brüllten die Jungen. »Is gar nich tief! Mach schon!«
    Sie stöhnte vor Schmerz, als ihre Füße auf die harten Steine trafen und der Schmerz durch ihre Fußgelenke schoss. Ihre Handgelenke brannten.
    »Na endlich«, sagte Jake. »Ich dachte schon, du willst dir’s da oben gemütlich machen.«
    »Vielleicht ’nen Laden aufmachen oder so?«, ergänzte Beetles.
    »Ja. Den Ich-hänge-in-der-Luft-und-hab-zu-viel-Schiss-um-loszulassen-Laden.«
    »Sehr witzig«, versetzte Kate. »Zeigt ihr mir jetzt vielleicht, wo ich einen Mantel bekommen kann?«
    Sie brachten sie zu der Straße, die Kate vom Dach des Gebäudes aus gesehen hatte. Ihre Füße sanken tief in die Schneewehen ein und die Eiskrusten zerkratzten ihre nackten Beine. Sie versuchte, die entgeisterten Blicke der Passanten zu ignorieren: ein Mädchen in einem dünnen Kleid, das den Leuten wohl wie ein Nachthemd vorkam, mitten im Winter … Sie folgte ihren beiden Führern durch eine kleine Gasse bis zu einer Straße, die breiter als die erste war und von Buden und Ständen flankiert wurde. Dunkel gekleidete Männer und Frauen drängten sich zwischen den Läden, während die Verkäufer auf der Straße standen und sie abzufangen versuchten, indem sie ihre Waren in den unterschiedlichsten Sprachen anpriesen.
    »Das hier is die Bowery«, sagte Beetles. »Hier kriegst du ’nen Mantel.«
    »Ich … ich habe kein Geld.«
    Die beiden Jungen blieben stehen. Kate musste ebenfalls anhalten und fing sofort an, wie Espenlaub zu zittern.
    »Haste was zum Tauschen?«, fragte Jake. »Was is mit dem Medaillon?«
    Kates Hand fuhr zu ihrem Hals. Ihre vor Kälte tauben Finger fummelten an dem goldenen Medaillon herum. Ihre Mutter hatte es ihr gegeben, in jener Nacht, bevor ihre Eltern verschwanden.
    »Das … das geht nicht.«
    »Was dann?«
    Aber Kate hatte nichts weiter bei sich. Das Medaillon ihrer Mutter war der einzige Gegenstand von Wert, den sie besaß. Und sie war am Erfrieren, wirklich und wahrhaftig am Erfrieren. Sie konnte die Passanten um Hilfe bitten, aber dann würde sie erklären müssen, wer sie

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