Das Buch Rubyn
sich ein riesiges, zerklüftetes Loch, und zwar direkt über der Öffnung im Boden, vor der sie standen. Es sah ganz so aus, als ob etwas Großes – etwa so groß wie ein Drache – aus dem Tunnel unter ihnen gekrochen war und dann das Dach nach draußen durchbrochen hatte.
Aber das Fallgitter vor dem Tunnel war wieder verschlossen, was bedeutete, dass der Drache zurückgekehrt war. Michael dachte an die Kreatur, die er auf die Lichtung hatte niederstoßen sehen, an die riesigen, rasiermesserscharfen Krallen und an die Reißzähne, die so lang waren wie sein Unterarm.
»Ich denke«, sagte er und gab sich Mühe, seine Stimme entschlossen und fest klingen zu lassen, um zu verschleiern, wie zittrig er sich fühlte, »ich denke, wir sollten da runter gehen, nicht wahr?«
»Ja.«
Michael nickte. Und plötzlich wusste er: Wenn in den Tunnel zu gehen, der einzige Weg war Emma zu retten, würde er es tun – egal wie viel Angst er hatte.
»Aber zuerst«, ließ sich Gabriel vernehmen, »werden wir den Turm durchsuchen.«
»Was? Wieso denn?«
»Der Drache hat das Tor nicht verschlossen. Ich will wissen, wer es war.«
Er steuerte auf eine Tür am anderen Ende des Saals zu. Sie stand offen und gab den Blick frei auf eine Treppe, die nach oben führte. Michael beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.
Ein paar Augenblicke lag der Saal still und verlassen da. Dann löste sich ein Schatten von einer der Säulen. Die Gestalt, in einen Umhang gehüllt, schlich den beiden hinterher und zog dabei ein Schwert.
»Emma!«
Michael stürmte vor und schlang die Arme um seine Schwester.
Er und Gabriel waren die Treppe bis zur Spitze des Turms nach oben gestiegen. Auf dem letzten Absatz hatte Michael nach draußen geschaut und den mit Sternen überzogenen Nachthimmel betrachtet, die schimmernden schneebedeckten Berge, den rot glühenden, rauchenden Krater des Vulkans; in einem Kohlebecken in der Wand des Turms loderte ein Feuer. Michael hatte Angst vor dem, was sie erwartete, da sah er Gabriel mit einem Ruck stehen bleiben. Er blickte an ihm vorbei – und da war sie: Emma, seine Schwester, lebendig und unverletzt.
»Oh Emma!« Er umarmte sie, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Ich hatte solche Angst um dich! Gabriel auch. Wir hatten beide so schreckliche Angst!«
Gabriel sagte etwas, aber Michael beachtete ihn gar nicht.
»Emma«, sagte er und nahm sie am Arm. Er trat ein Stück zurück. Jetzt, wo er sie in Sicherheit wusste, musste er mit ihr reden, wie es die Aufgabe eines älteren Bruders war. »Ich weiß, dass du viel durchgemacht hast, aber ich habe dir doch gesagt, dass du nicht auf die Lichtung gehen sollst. Das war eine ziemlich bittere Lektion, aber du hast sie gelernt, nicht wahr? Vielleicht passt du das nächste Mal besser auf, wenn ich dir etwas sage.«
»Michael …«
»Einen Moment noch, Gabriel. Emma, hörst du mir überhaupt zu?«
»Nein, ich glaube nicht, dass sie dich hört.«
»Was? Aber was …?«
Und da erst merkte Michael, dass seine Schwester, während er sie umarmt hatte, weder geächzt noch versucht hatte, ihn wegzustoßen, und sie hatte auch nicht gespottet, ob er nicht lieber einen Zwerg in die Arme nehmen wollte.
»Etwas hat sie eingefroren«, sagte Gabriel.
Michael starrte seine reglose Schwester an. Ihre Arme waren ganz steif und ihre Augen starr. In ihren dreckverkrusteten Haaren klebte ein eingerollter Farnwedel. Als er die Hand ausstreckte und ihn entfernte, konnte er die Kälte ihrer Haut spüren.
Mit schwacher, fast hoffnungsloser Stimme fragte er: »Kannst du sie wieder gesund machen?«
Gabriel schüttelte den Kopf.
»Was ist mit Dr. Pym?«
Gabriel zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber Michael hatte verstanden. Sie hatten den Zauberer in Malpesa zurückgelassen, wo er um sein Leben kämpfen musste. Wer konnte sagen, wann – und ob überhaupt – sie ihn wiedersehen würden.
Dann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, wirbelte Gabriel herum. Die Machete zischte durch die Luft und es folgte ein lautes metallisches Klirren.
Michael drehte sich um und sah einen Mann in einem Umhang, der ein Schwert in der Hand hielt. Der Mann taumelte rückwärts.
Er hatte mandelfarbene Haut, lange, ungepflegte Haare und einen zotteligen schwarzen Bart. Er war kleiner als Gabriel und sehr dünn. Seine Kleidung war fadenscheinig und geflickt und ihre einzelnen Teile passten irgendwie nicht zusammen, als wären sie von unterschiedlichen Trägern ausgeliehen, wodurch der Mann aussah wie
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