Das Buch Rubyn
Gabriel.
Die Unterlippe des Mannes fing an zu zittern und er stieß ein jammerndes Stöhnen aus.
»Ach, hören Sie bloß auf damit!«, fuhr Michael ihn an. »Sie sind der Letzte eines uralten und ehrwürdigen Ordens aus Kriegern! Zeigen Sie doch etwas Haltung!«
Der Mann zog sich den Umhang über den Kopf und versteckte sich darunter. Michael nahm die Gelegenheit wahr, um sich zu sammeln. Das Gespräch verlief nicht gut. Es schien keine Möglichkeit zu geben, Emma aus ihrer Starre zu erwecken, zumindest keine unkomplizierte, und je mehr Zeit verging, desto wahrscheinlicher war es, dass der Drache aufwachte. Und was dann? Michael hatte zwar großes Vertrauen in Gabriels Kräfte, aber ein Drache war immerhin ein Drache. Und er hatte immer noch nichts über die Beziehung zwischen dem Wächter und dem Drachen herausgefunden. War der Mann der Meister der Kreatur? Es sah nicht so aus. Aber irgendein Band musste es zwischen ihnen geben, denn sonst hätte der Drache den Mann schon vor langer Zeit getötet.
Michael bemerkte, dass er unbewusst die blau-graue Murmel rieb, die um seinen Hals hing. Könnte die Glaskugel ihm weiterhelfen? Vielleicht sollte er sie einfach zerschlagen, wie Emma es vorgeschlagen hatte? Aber was, wenn ein Gegner sie geschickt hatte? Solange Emma in diesem Zustand war, schien ihm dieser Versuch zu riskant. Michael ließ die Murmel wieder unter sein Shirt gleiten.
Wir gehen zu Plan B über, dachte Michael. Wir brechen jetzt auf, bevor der Drache aufwacht. Gabriel trägt Emma zum Flugzeug. Wir suchen Dr. Pym – vorausgesetzt, er ist noch am Leben – und er erlöst Emma aus ihrer Starre. Und später kommen wir zurück und holen uns die Chronik.
Emma zu helfen stand an erster Stelle.
Aber Michael wusste, dass sie diesen Ort nicht verlassen konnten, bevor sie nicht die Geschichte des Wächters gehört hatten. Sie brauchten jede mögliche Information, wenn sie später zurückkehren und das Buch Rubyn holen wollten.
»Ich möchte, dass Sie uns alles erzählen. Wie Sie hierher gekommen sind. Was mit den anderen Wächtern passiert ist. Wo der Drache herkommt. Fangen Sie ganz von vorne an. Aber beeilen Sie sich.«
»Und wenn Sie uns anlügen«, fügte Gabriel hinzu, »dann werde ich Ihnen wirklich den Kopf abschlagen.«
Während der Mann seine Geschichte erzählte, schaute Michael hin und wieder zu seiner Schwester. Halb erwartete er, dass sie plötzlich anfangen würde zu lachen und erklären, dass sie nur einen Witz gemacht hatte, dass sie gar nicht eingefroren gewesen war.
Aber sie rührte sich nicht.
Keine Sorge, schwor er im Stillen. Ich lasse dich nicht im Stich.
»Vor viertausend Jahren«, begann der Mann mit seiner Erzählung, »als die Welt ein ganz anderer Ort war als heute – viel staubiger zum Beispiel –, da gab es einen Großen Rat, bestehend aus sehr klugen Zauberern, in einer Stadt namens Rhakotis an der Küste des Mittelmeers.«
Zu Michaels Verzweiflung schien der Wächter nicht in der Lage zu sein, seine Geschichte geradlinig zu erzählen. Immer wieder verlor er den roten Faden und berichtete von irgendwelchen essbaren Früchten oder ließ sich über die Intelligenz von Kamelen und die Dummheit von Vögeln aus, beschrieb detailliert Berts außerordentliche Sanftmut und bot dabei Michael und Gabriel immer wieder von seinem Käfervorrat an – ein Angebot, das beide jedes Mal dankend ablehnten, begleitet von der drängenden Bitte, doch endlich auf den Punkt zu kommen …
»Und diese klugen Zauberer hielten es für eine großartige Idee, ihre größten, schrecklichsten und geheimsten Geheimnisse aufzuschreiben, Geheimnisse, in denen es um die Erschaffung der Welt ging. Und so entstanden die drei Bücher. Eins handelte von der Zeit. Eins vom Leben. Und das dritte handelte vom Tod. Sie wurden in drei getrennten Gewölben aufbewahrt, tief unter der Stadt. Und was für eine herrliche Stadt es war …!«
Nun folgte eine Aufzählung der Sehenswürdigkeiten von Rhakotis, bis ein Knurren von Gabriel den Mann wieder auf den richtigen Pfad zurückführte.
»Nun, und die klugen Zauberer gründeten in ihrer außerordentlichen Klugheit einen Orden der Wächter, die schwören mussten, die Bücher mit ihrem Leben zu beschützen. Es gab immer nur zehn Wächter, aber sie waren Meister der Magie und des Kampfes, und sie wurden unterstützt durch die Macht der gesamten Zaubererschaft.« Er kratzte sich am Bart. »Die Zeit verging, ebenso wie die Klugheit der Magier. Vielleicht waren sie von
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